Gesellschaft
Auch ohne Abschluss: Deutschland will attraktiver für ausländische Fachkräfte werden
Die Bundesregierung will die immer größere Lücke an Fachkräften in Deutschland künftig auch mit viel mehr Arbeitskräften aus dem Ausland füllen. Anders als heute sollen verstärkt Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger ohne anerkannten Abschluss ins Land kommen dürfen. Auswahlkriterien sollen etwa Berufserfahrung oder Deutschlandbezug sein. Das Bundeskabinett beschloss am Mittwoch entsprechende Eckpunkte. Eindringlich warben vier Kabinettsmitglieder für das geplante Gesetz – vor allem bei der Union, die die Migrationspolitik der Ampel zuletzt stark kritisiert hatte. Wirtschaft und Gewerkschaften begrüßten die Pläne.
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte: „Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können.“ Deutschland solle das modernste Gesetz seiner Art in ganz Europa bekommen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte: „Wir müssen Einwanderung von qualifizierten Fachkräften wollen, sonst kriegen wir den Wohlstand und die soziale Sicherheit dauerhaft nicht gewährleistet.“ Heil kündigte eine entsprechende Kampagne an.
Nach den Worten von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) soll es ein Gesetz sein, „das nach vorne weist, das offensiv für eine Gesellschaft der Vielen wirbt“. Seine für Bildung zuständige FDP-Kollegin Bettina Stark-Watzinger meinte: „Integration zu machen und dauerhaft in Deutschland zu bleiben – das muss ja unser Ziel sein.“
Arbeitsplatzsuche vor Ort mit der Chancenkarte
Als wohl größte Änderung soll „Drittstaatsangehörigen mit gutem Potenzial“ möglich gemacht werden, zur Suche eines Arbeitsplatzes einzureisen. Vergeben werden soll dafür eine Chancenkarte. Bekommen soll diese nach den Worten von Heil, wer drei von fünf Kriterien erfüllt. Die Kriterien sind: Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter. Was aber genau ein solcher Bezug sein soll und wie viele Punkte es für welches Sprachniveau gibt, ist noch offen. Es wird daran gedacht, dass mehrfache Deutschlandreisen, ein Job bei einem deutschen Arbeitgeber im Ausland oder Verwandte in Deutschland zählen könnten.
Zwei Wochen sollen Nicht-EU-Bürger mit Chancenkarte eine Probebeschäftigung während der Arbeitsplatzsuche machen dürfen. Auch ein Nebenjob mit 20 Stunden die Woche soll erlaubt werden. Geprüft werden soll auch eine leichtere Einwanderung zur Ausbildungsplatzsuche.
Berufserfahrung zählt künftig mehr
Anerkannte ausländische Fachkräfte sollen künftig auch in Berufen arbeiten können, die mit ihrer Ausbildung nichts oder wenig zu tun haben. Ein Mechaniker könnte etwa als Lagerist oder eine Polizistin als Kellnerin angeworben werden. Berufserfahrung soll bei der Erteilung eines Arbeitsvisums stärker berücksichtigt werden. Die Anerkennung des im Herkunftsland erworbenen Abschlusses soll nicht zwingend vor der Einreise erfolgen. Der Arbeitgeber soll stärker mitentscheiden können, ob er jemanden gebrauchen und dieser dann bleiben kann.
Seit 2020 gibt es schon ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Fachkräfte mit einer ausländischen Berufsausbildung erhalten für sechs Monate das Recht zum Aufenthalt zur Arbeitsplatzsuche. Eine novellierte EU-Richtlinie für eine „Blaue Karte“ für Hochqualifizierte steht zudem vor der Umsetzung. Diese Karte bekommen Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Unterhalb der Ebene des Rechts soll vieles schneller und einfacher werden: Mehr Anträge sollen digital möglich werden, das Auswärtige Amt will die Visa-Erteilung leichter machen. Auch für Studierende und Azubis soll Deutschland attraktiver werden, wie Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger ankündigte.
Bis 2035 fehlen etwa sieben Millionen Fachkräfte
In Restaurants und Kneipen, in der Kinderbetreuung, in der Pflege, im Handwerk, in der öffentlichen Verwaltung – überall werden laut Heil händeringend Fachkräfte gesucht. Im IT-Bereich gibt es laut Habeck 100.000, im Bereich Solar- und Windenergie über 200.000 offene Stellen. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fehlen bis 2035 sieben Millionen Fachkräfte. Heil warnte nicht nur vor einem Wohlstandsverlust, sondern auch vor Lücken in der Rentenkasse, wenn nicht mehr Menschen kommen.
Damit sich das künftig ändert, will die Regierung ihren Gesetzentwurf bereits Anfang 2023 in den Bundestag einbringen. Ob das Gesetz zustimmungspflichtig im Bundesrat ist, ist noch offen – wahrscheinlich aber schon. Über die Länderkammer hätte die Union wie zuletzt beim Bürgergeld eine Blockademöglichkeit. Die Union hatte den gesamten Migrationskurs der Ampel massiv kritisiert, vor allem Pläne zur leichteren Einbürgerung von im Land schon integrierten Ausländern. Der Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) hatte aber auch dem angepeilten Punktesystem eine Absage erteilt. Heil entgegnete: „Es ist der Weg der ökonomischen Vernunft, dass wir qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland ermöglichen, und ich setze darauf, dass der noch vorhandene ökonomische Sachverstand der Union auch mithilft, dass die andere große Volkspartei mitgeht.“
Reaktionen auf die Pläne
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger attestierte der Politik, „die richtigen Weichen“ zu stellen. Auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) begrüßte die Pläne, verlangte aber Nachbesserungen im Detail. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer forderte: „Die Ausländerbehörden müssen „Welcome-Center“ werden.“ Auch der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann meinte: „Bürokratische Hürden behindern heute den Zuzug.“ Anja Piel vom DGB-Vorstand bewertete auch das Punktesystem als „eine gute Idee“.
dpa/dtj