Kolumnen
Welcher Art ist das Erbe Fethullah Gülens?
Muhammed Fethullah Gülen, ein Gelehrter des Islams, ein einflussreicher Intellektueller der Gegenwart, ein Lehrer und spiritueller Meister, ein Verfechter des interreligiösen und kulturellen Dialogs, ist am 20. Oktober im Alter von 86 Jahren ins Jenseits gegangen. Jeder Mensch stirbt, aber nicht jeder Mensch lebt.
Gülens facettenreiches Leben wird sicher auch in den nächsten Generationen im Fokus der Forschung bleiben. In diesem bescheidenen Beitrag möchte ich versuchen, so objektiv wie möglich über das Vermächtnis Gülens zu schreiben, obwohl ich von seinem Ableben sehr betroffen bin und seither kaum einen klaren Gedanken fassen kann.
Geschenk für Neugeborene und junge Hochzeitspaare
Vor einigen Tagen wurde der materielle Nachlass Gülens von seinen engsten Weggefährten und Verwandten über herkul.org veröffentlicht: Nach seinem Ableben wurde eine Vollmacht gefunden, die die Verfügungsgewalt über die Urheberrechte seiner Bücher auf den „Cascade Trust“ übertrug sowie die Anzahl von „Viertel Goldstücken“ im Wert von 20.020 Dollar aus den Tantiemen der Bücher und 12.640 Dollar als Geschenk für Neugeborene und junge Hochzeitspaare wiedergab.
In seiner Tasche wurden außerdem 2.000 Dollar gefunden, die Gülen gehörten. Er hatte sie als „Leichengeld“ beiseite gelegt. Eine so bescheidene Summe, die unter dem materiellen Erbe eines Gastarbeiters liegt. Verglichen mit dem Privatvermögen eines Diktators ist es wahrscheinlich das tägliche Brot eines Habenichts.
Gülen lebte im Zölibat
Gülen führte ein zölibates Leben wie Johannes der Täufer oder Imam Newewi und hatte weder Frau noch Kind. Seine engsten Verwandten führen ein bescheidenes Leben und leiden ferner unter dem Tragen seines Nachnamens, weil sie alleine aufgrund dessen entweder entführt, enteignet oder verbannt werden oder wurden.
Nach alldem ist es nicht überzeugend, dass ein solcher Mensch sein 86-jähriges Leben für materielle Interessen und Machtansprüche gelebt haben soll. Doch wofür hat Gülen wirklich gelebt und was ist sein tatsächliches Erbe? In seinem letztveröffentlichtem Interview (2024) gibt Gülen eine Antwort auf den ersten Teil dieser Frage.
„Woran ich glaube, wofür ich lebe“
„Ja, mein Wunsch, meine Hoffnung für die Menschheit ist dies: Weltfrieden. Dies erbitte ich mir von Gott. Er ist derjenige, der diesen Weltfrieden erschaffen wird.“ In diesem Interview beantwortet er viele weitere Fragen über die Bewegung, die um ihn herum entstanden ist.
Er nennt den Weltfrieden als Ziel, Bildung und Erziehung als notwendige Maßnahmen dieser prophetischen Mission, den Kampf gegen Armut und Polarisierung als notwendige Bestandteile dieser Mission. Die Überwindung von Hass und Neid, die Einpflanzung von Tugendhaftigkeit würden den Weg dorthin ebnen. Dafür muss man aber allererst die Multiplikatoren zu diesem Ziel gewinnen.
Weltfrieden und verantwortungsvolle Teilhabe
Gottes- und Menschenliebe, Weltfrieden und verantwortungsvolle Teilhabe waren einige seiner zentralen Vermächtnisse. Gülen hat ein riesiges, nahezu unvergleichliches audiovisuelles und schriftliches Erbe hinterlassen. Weder das Tagebuch von Agatha Christi noch das Gesamtwerk von Benjamin D’israeli können damit verglichen werden. Fast alle seine Gespräche wurden aufgezeichnet.
Würde man sie niederschreiben, so würden sie mehr als zweihundert Bände füllen. Auch die Schriften, die aus seiner Feder stammen, umfassen mehrere Dutzend Bände. Dieses geistige Erbe wird seine Bewegung und viele andere Bewegungen weiterhin inspirieren. Aus religionssoziologischer Sicht haben Bewegungen, die sich auf ein aufgezeichnetes oder niedergeschriebenes Erbe stützen, eine Lebensdauer von mehreren hundert, wenn nicht gar tausend Jahren.
Erben seines Wirkens
Darüber hinaus hat Gülen in seinem Lehrerkreis mehrere hundert Schüler ausgebildet, die sich als Erben dieses Vermächtnisses verstehen. Des Weiteren hat er mehrere tausend Menschen geprägt, die ihn in seinem irdischen Leben begleitet oder Aufgaben für das gemeinsame Ziel der Bewegung übernommen haben.
Sie sind die Erben seines Wirkens. Ähnlich wie die Schüler von Mewlana Khalid el-Baghdadi (gest. 1837) und Bediuzzaman Said Nursi (gest. 1960) werden die Gefährten Gülens weiterhin die von ihm initiierte Bewegung prägen und die kommenden jungen Generationen in Wort und Tat inspirieren.
Keine vergleichbare Bildungsbewegung in der Geschichte des Islams
Die gewaltige Ausbreitung des Islam in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts durch die militärischen Verteidigungsaktionen der Erben des Propheten stellt eine weltgeschichtliche Ausnahmesituation dar. Die Erben des Propheten erreichten rund drei Viertel der alten Welt und färbten die Bewohner der eroberten Länder mit ihrer Farbe ein.
Die Bedeutung von Gülen und die Fehler der Bewegung: Ercan Karakoyun im Interview
Die Erfolge der ersten Generation des Islams lassen sich nicht auf militärische Erfolge beschränken, denn sie haben mit der Botschaft des Korans über ein Jahrtausend hinweg die Herzen dieser Länder gewonnen. Sie lassen sich daher sicher nicht mit den Schwert- und Feuerattacken der Mongolen im 13. Jh. gleichsetzen. Kein Land wurde zum Schamanen, weil die Mongolen mit großen militärischen Aktionen Länder eroberten.
Bildung, Dialog, humanitäre Hilfe und Menschenrechte
Die Erfolge der Hizmet-Bewegung in der islamischen Geschichte lassen sich jedoch in keine dieser Kategorien einordnen. Denn die Hizmet-Bewegung widmet sich in erster Linie den Bereichen Bildung, Dialog, humanitäre Hilfe und Menschenrechte.
Obschon es in der Vergangenheit einige Bildungsbewegungen gab, wie beispielsweise die Nizamiye-Bewegung im 12. und 13. Jahrhundert, welche in verschiedenen Gebieten des Nahen und Fernen Ostens sowie in Afrika durch Universitäten vertreten war, kann der Bildungsein- und -ansatz der Hizmet-Bewegung nicht mit jenen anderer Bildungsprojekte verglichen werden.
Ziviler Islam
Denn das Bildungsspektrum der Hizmet-Bewegung ist nicht auf eine bestimmte religiöse Gruppe beschränkt, sondern richtet sich an alle Menschen unabhängig von ihrer Religion, Hautfarbe, Ethnie oder Sprache. Des Weiteren vertritt die Hizmet-Bewegung einen zivilen Islam, der eine Anwendung von Gewalt sowie eine politische Instrumentalisierung der Religion ablehnt.
Insofern gibt es weder unter den zeitgenössischen noch unter den Bewegungen der islamischen Geschichte etwas Vergleichbares wie die Hizmet-Bewegung. Sie kann demnach als Unikat in dieser Hinsicht bezeichnet werden.
Opfer von Militärputschen
Die mediale Wahrnehmung des Gelehrten Gülen wird in Deutschland leider allzu oft mit der politischen Türkei in Verbindung gebracht. Dies lässt sich durchaus nachvollziehen. Einerseits ist die Bewegung erst in der Türkei entstanden, andererseits wurde sie aus der Türkei verbannt. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass sich die Hauptwerke Gülens und die Grundbausteine der Bewegung mindestens ein Jahrzehnt vor der Gründung der AKP herauskristallisiert haben.
Gülen verschrieb sich sowohl mündlich als auch politisch für die Demokratie und ist einer der wichtigsten muslimischen Gelehrten, der ohne „Wenn und Aber“ die Demokratie und demokratische Grundordnung unterstützt. Sein Buch „Kein Zurück von der Demokratie“ bildet den Leitsatz seiner Grundhaltung. Alles, was diesen demokratischen Prozess auf Eis legt, wie Militärputsche, wurden von Gülen immer wieder missbilligt.
Es ist falsch, Gülen über die Politik der Türkei zu lesen
Gülen selbst war das Opfer von drei Militärputschen von 1971, 1980, 1998. Bedenkt man das Ergebnis des letzten Putschversuches, kann man schnell erahnen, dass Gülen und seine Bewegung eher als Opfer dastehen. Außerdem hat die Bewegung bisher kein parteipolitisches Interesse an den Tag gelegt. Gülen versuchte sein Bildungs- und Dialogprojekt anhand der gemeinsamen universellen Werte der Menschheit zu orientieren.
Daher ist es in meinen Augen falsch, Gülen und seine Bewegung über die Politik der Türkei zu lesen. Abermals ist es nicht zutreffend, dass die Freiwilligen der Hizmet-Bewegung, die Opfer des türkischen Regimes wurden, im Ausland den Putschversuch und die darauffolgendende Verfolgungswelle als Mittelpunkt der Hizmet-Geschichte präsentieren.
Zwischen Respekt und Hass: Reaktionen auf den Tod von Fethullah Gülen
Das geistige Erbe Gülens wird nicht nur die Zukunft seiner Bewegung, sondern auch viele andere Bildungs- und Dialogbewegungen weiter inspirieren, da bin ich mir sicher. Ob sich die Türkei dieses Projekt noch einmal zu Herzen nehmen wird, bleibt ungewiss.
Dr. Arhan Kardaş studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte in Ankara, Gazi und Bilkent sowie Rechtswissenschaften in Wien. Seine Promotion zum Thema „Gleichstellung der Frau im islamischen Recht?“ schloss er 2019 unter Prof. Dr. Mathias Rohe ab. Dr. Kardas ist derzeit Lehrbeauftragter für Jüdische Studien und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam sowie Chefredakteur der Zeitschriften „Fontäne“ und „Fontäne Jugend“. Zudem fungiert er als Vorsitzender der islamischen Akademie für Bildung und Gesellschaft.