
Ankaras neues Luftabwehrsystem „Steel Dome“ steht sinnbildlich für den Anspruch, militärisch unabhängiger zu werden – und legt zugleich die Bruchlinien offen: technologische Ambitionen, Exporterfolge, aber auch Lücken bei Personal, Beschaffung und High-End-Plattformen.
Als Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara beim Elektronik- und Rüstungsriesen Aselsan die neue Luftabwehr „Steel Dome“ (Stahlkuppel) enthüllt, spricht er von einem „Zeichen der Stärke“ und dem Beginn „einer neuen Ära“ in der türkischen Luftverteidigung.
Das in Eigenregie entwickelte System soll – so der Wunsch – die Lücke zwischen politischem Anspruch und militärischer Wirklichkeit schließen. In der letzten Projektphase sind 47 Fahrzeuge im Wert von 460 Millionen Dollar vorgesehen; sie sollen, so Erdoğan, „Vertrauen bei unseren Freunden und Angst bei unseren Feinden wecken“.
Autarkie als Lehre – und als Geschäftsmodell
Die Botschaft fügt sich in eine seit Jahren vorangetriebene Strategie: Die Türkei will unabhängiger von westlichen Zulieferern werden. Wiederholte Embargomomente – vom Zypernkonflikt über den Krieg gegen die PKK bis zur Beschaffung des russischen S-400-Systems – haben in Ankara die Überzeugung verfestigt, dass nur eine starke heimische Industrie krisenfest macht.
Der Staat zieht die Investitionsschraube an, Unternehmen wie Aselsan, TAI oder Baykar füllen Schaubühnen und Auftragslisten. Auf Messen wie der IDEF präsentiert die Branche Drohnen, Panzerhaubitzen, Lenkwaffen – und mit „Gazap“ sogar eine thermobarische „Mutter aller Bomben“.
Lehren aus der Vergangenheit
Der wirtschaftliche Output ist messbar: Rüstungsexporte im Wert von 7,2 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr, rund 30 Prozent mehr als 2023. Mindestens ebenso wichtig ist Ankara jedoch die strategische Unabhängigkeit – die Fähigkeit, Systeme selbst zu warten, zu reparieren, Ersatzteile zu fertigen.
Das ist eine Lehre aus der Vergangenheit. Der staatliche Dienstleister ASFAT wirbt offensiv damit, Europas Wartungs- und Instandsetzungslücke (MRO) zu schließen – bis hin zu Angeboten, westliche Jets und Transporter in türkischen Einrichtungen zu betreuen.
Stärken im Mittelbau, Schwächen an der Spitze
Trotz Erfolge im „Mittelbau“ moderner Kriegsführung – Elektronik, Drohnen, Munitionsfamilien – zeigen sich die Grenzen des Aufrüstungsprojekts dort, wo Hochtechnologie und langfristige Wertschöpfungsketten nötig sind. Nach dem Putschversuch 2016 verlor die Armee zehntausende Offiziere – darunter einen Großteil des Stabspersonals – und kämpft bis heute mit Piloten- und Führungskräftemangel.
Politische Konflikte taten ein Übriges: 2019 wurde die Türkei aus dem F-35-Programm geworfen; der Weg zu modernen F-16 aus den USA war lange verstellt und bleibt an Bedingungen geknüpft. Der Wunsch, Eurofighter zu kaufen, scheiterte jahrelang am deutschen Veto; ob ein politischer Kurswechsel in Berlin die Blockade tatsächlich aufhebt, ist unklar. Zuletzt sah es allerdings gut aus.
Auch Ikonen der Selbstbehauptung sind nicht frei von Widersprüchen. Der Tarnkappenjet „Kaan“ absolvierte zwar Testflüge und weckt Exportfantasien – technisch stützt sich das Projekt aber weiterhin auf westliche Partnerschaften und Komponenten, der Weg zur Serienreife ist lang. Der Kampfpanzer „Altay“ wiederum leidet am Motorproblem – ein Sinnbild für die Abhängigkeit bei Schlüsseltechnologien.
„Steel Dome“ als Scharnier
Vor diesem Hintergrund ist „Steel Dome“ mehr als ein neues Waffensystem. Es ist Scharnier und Schaufenster zugleich: innenpolitisch ein Prestigeobjekt, außenpolitisch ein Signal, industriell ein Test, ob komplexe Verbundsysteme – Sensorik, Vernetzung, Effektoren – in nationaler Regie verlässlich funktionieren.
Luftverteidigung ist in einem Umfeld von Drohnen-, Raketen- und Marschflugkörperbedrohungen das sicherheitspolitische Nervenzentrum. Wer hier glaubwürdig wird, wertet seine gesamte Industrie auf – vom Radar bis zur Flugkörperabwehr.
Erdoğan flankiert die Technik mit industriepolitischen Dekreten: Die Produktionskapazitäten für Mittel- und Langstreckenraketen sollen binnen 18 Monaten um 270 Prozent steigen. Parallel kultiviert Ankara das Image des unverzichtbaren Rüstungsakteurs zwischen NATO und Nahost – auch, indem es Exportkunden und Kooperationspartnern Instandsetzung, Upgrade und Teilefertigung aus einer Hand anbietet.
Risiko Geopolitik
Doch die geopolitische Rechnung bleibt fragil. Erdoğans scharfe Rhetorik gegenüber Griechenland, Zypern oder Israel, der NATO-Zwist um Schweden – all das nährt Skepsis bei potenziellen Lieferanten und Abnehmern. Washingtons Bedingungen für F-16 – keine „missbräuchliche“ Nutzung gegenüber NATO-Partnern, Restriktionen für Einsätze gegen kurdische Kräfte – illustrieren den politischen Preis.
Und selbst wenn Exportaufträge kommen: Ohne stabile Zulieferketten, Technologiezugang und Fachkräfte droht der industrielle Sprint zu straucheln. Die Türkei hat in kurzer Zeit eine beachtliche Rüstungsinfrastruktur aufgebaut, die Lücken Europas – besonders bei Wartung und Ersatzteilen – erkannt und adressiert. Systeme wie „Steel Dome“ markieren Ambition und Lernkurve.
Personaldefizite, Abhängigkeiten, Unsicherheiten
Zugleich bleiben Sollbruchstellen sichtbar: Personaldefizite, Abhängigkeiten in der Spitzentechnologie, politisch bedingte Unsicherheiten bei westlicher Ausrüstung. Ankara setzt darauf, dass industrielle Verdichtung und symbolträchtige Projekte das Kräfteparadoxon überbrücken.
Ob die „Stahlkuppel“ am Ende mehr ist als eine glänzende Inszenierung, entscheidet sich weniger am Rednerpult als in der Fertigung, der Integration – und in der nüchternen Einsatzbilanz. Bis dahin bleibt die türkische Aufrüstung ein doppeltes Projekt: eines der Maschinenhallen und eines der politischen Bühne.