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Beleidigt – und auch provoziert? Der Fall Deniz Undav in Istanbul

  • Oktober 25, 2025
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Beleidigt – und auch provoziert? Der Fall Deniz Undav in Istanbul

Beim Europa League-Duell zwischen Fenerbahçe Istanbul und dem VfB Stuttgart erlebten die Zuschauer ein intensives, aber weitgehend faires Spiel, das die Gastgeber knapp mit 1:0 für sich entschieden. Für Aufregung sorgte jedoch weniger das sportliche Geschehen als vielmehr die Einwechslung eines Spielers: Deniz Undav.

Der Stürmer des VfB Stuttgart, Sohn jesidisch-kurdischer Eltern und in Niedersachsen geboren, wird in der Türkei längst nicht nur sportlich wahrgenommen. Seit seiner Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft gilt er in Teilen der türkischen Fanszene als Symbolfigur für Loyalitätskonflikte – und als Reizfigur zugleich.

Kurde oder PKK-Anhänger?

Undav ist in den vergangenen Jahren mehrfach mit Symbolbildern in Verbindung gebracht worden, auf denen die kurdische Flagge zu sehen war. Für nationalistische Kreise in der Türkei gilt das als gezielte Provokation – insbesondere in einem Klima, in dem ethnische und politische Identitäten im Fußball immer wieder instrumentalisiert werden.

Zusätzliche Brisanz erhielt die Debatte durch einen Parodie-Account auf X, der im Namen des Fußballers postet. Kurz vor dem Spiel in Istanbul teilte der Account ein Foto, das Undav bei seiner Ankunft zeigt – versehen mit der Unterschrift: „Welcome to Constantinople.“

Für viele Türken ein Affront, da sie den türkischen Souveränitätsanspruch über Istanbul indirekt in Frage stellt. Von Undav selbst kam bislang kein Dementi zu dem Profil, das seinen Namen und sein Bild nutzt.

Rudelbildung, Gesten – und viel Projektion

Als Undav in der zweiten Halbzeit eingewechselt wurde, kochte die Stimmung im Stadion hoch. Pfiffe begleiteten jede Ballberührung. Nach einer hitzigen Szene geriet Undav mit Ismail Yüksek aneinander. Der türkische Nationalspieler deutete die 1:0-Führung an und machte ein Schweigezeichen. Undav konterte mit einer Geste, die als Hinweis auf ein mögliches 1:1 verstanden wurde.

Solche Emotionen gehören im Fußball zum Alltag. Doch im aufgeheizten Klima zwischen nationalem Stolz, ethnischer Zugehörigkeit und politischer Deutung verwandelte sich eine harmlose Szene in eine politische Auseinandersetzung.

Antikurdischer Rassismus und kurdische Solidarität

In den sozialen Netzwerken entlud sich anschließend ein regelrechter Shitstorm. Von „vaterlandslosem Undav“ war die Rede, dazu Beleidigungen wegen seiner Herkunft und Religion. Darauf reagierte unter anderem die Kurdische Gemeinde Deutschland mit einer scharfen Stellungnahme:

„Die Kurdische Gemeinde Deutschland verurteilt die antikurdischen Anfeindungen gegen Deniz Undav aufs Schärfste. Fußball soll Menschen verbinden, nicht spalten. Ethnischer Hass, Nationalismus und Rassismus dürfen im Sport keinen Platz haben.“

Brisant: In ihrem Post markierte die Organisation ausgerechnet den Parodie-Account, der die Debatte ursprünglich befeuert hatte. Ob das ein Versehen oder ein Hinweis auf tatsächliche Nähe ist, bleibt offen. Sollte Undav tatsächlich hinter dem Account stehen, würde die Debatte eine neue Dimension gewinnen – nämlich die einer bewussten Provokation vor dem Spiel.

Zwischen Identität und Verantwortung

Der in Varel geborene Undav, der in Achim bei Bremen aufwuchs, hatte seine Entscheidung für den DFB einst mit klaren Worten begründet: „Ich wusste, dass ich bei zwei, drei schlechten Spielen für die Türkei komplett durchbeleidigt worden wäre.“

Diese Aussage zeigt, dass Undav sich der Empfindlichkeiten sehr wohl bewusst ist. Umso mehr steht er als Nationalspieler Deutschlands in der Verantwortung, in internationalen Spielen besonnen und respektvoll aufzutreten – insbesondere in einem Land, dessen Fußballkultur von starkem Nationalgefühl geprägt ist.

Undav über Pfiffe: „Sowas spornt mich an“

„War geil“, sagte Undav nach dem Spiel bei RTL+. „Die haben nur gepfiffen und gebuht. Sowas spornt mich an.“ Eine sportlich verständliche Reaktion – doch sie verdeutlicht zugleich, wie sehr Fußball längst zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Spannungen geworden ist.

Der Fall Undav offenbart, wie brüchig die Grenzen zwischen Sport, Identität und Politik geworden sind. Er zeigt, dass ein Fußballspiel heute weit mehr ist als nur ein Wettbewerb um Tore – es ist ein Spiegelbild der Konflikte, die viele in der deutsch-türkischen Community nach wie vor bewegen.

Deniz Undav steht exemplarisch für eine Generation von Spielern mit Wurzeln in der Türkei, die zwischen mindestens zwei kulturellen Welten aufwächst – und in beiden mit überzogenen Erwartungen konfrontiert ist. Die Verantwortung liegt nun nicht nur bei ihm, sondern auch bei Medien, Verbänden und Fans: den Fußball wieder zum Ort des Miteinanders zu machen, nicht der Spaltung.

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