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Britisches Home Office: Neuer Bericht zur Gülen-Bewegung offenbart Verfolgung durch türkische Führung

  • September 29, 2025
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Britisches Home Office: Neuer Bericht zur Gülen-Bewegung offenbart Verfolgung durch türkische Führung

Das britische Innenministerium hat seine Einschätzung zur Gülen-Bewegung aktualisiert. Der Bericht dokumentiert Massenverfahren in der Türkei, riskante Kriterien für Verdächtigungen und eine zunehmende internationale Dimension der Verfolgung.

Das britische Home Office hat seine Country Policy and Information Note (CPIN) über die Gülen-Bewegung (Eigenbezeichnung „Hizmet“) auf einen neuen Stand gebracht. Die Einschätzung wird seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei 2016 regelmäßig upgedatet. Sie ist unter anderem für Behörden relevant, die mit der Zuerkennung von Asyl und Aufenthaltswesen für türkische Staatsangehörige befasst sind.

Generalverdacht einer Gülen-Nähe gegen ganze Berufsgruppen

Der Bericht zitiert Daten und Erkenntnisse aus Großbritannien, den USA oder der EU – aber auch aus der Türkei selbst. Etwa, wenn es um die Zahlen geht, die aus Ankara selbst genannt werden. Seit 2016 ist es diesen zufolge zu mehr als 693.000 Gerichtsverfahren gekommen. Allein bis Mitte 2023 waren 122.632 Menschen verurteilt worden, darunter über 1.300 zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Etwa 12.000 saßen zu diesem Zeitpunkt noch im Gefängnis.

Freigesprochen wurden 97.139 Personen – häufig, weil sie sich als Kronzeugen gegen andere Hizmet-Verdächtige zur Verfügung gestellt hatten. Gegen fast 68.000 Personen dauerten die Ermittlungen noch an. Es seien rund 125.000 Beamte entlassen und mehr als 230.000 Pässe entzogen worden. Zahlreiche Schulen, Vereine und Medienhäuser wurden geschlossen, rund 270 Stipendien gestrichen und tausende Institutionen dauerhaft aufgelöst.

Der Bericht gibt auch Einblick in die Verfolgungspraxis türkischer Behörden gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der Bewegung. So stehen bestimmte Bevölkerungsgruppen von vornherein unter einem erhöhten Verdacht, Hizmet nahezustehen. Zu diesen gehören unter anderem Lehrer, Journalisten, Richter, Anwälte, Soldaten oder Polizisten.

Menschen müssen mit Durchleuchtung sozialer Kontakte durch die Türkei rechnen

Darüber hinaus konstruiert die Führung in Ankara jedoch Anhaltspunkte, die jedermann sehr schnell ins Visier der Justiz bringen können. Ausreichend seien etwa die frühere Nutzung der verschlüsselten App ByLock, ein Konto bei der inzwischen geschlossenen Asya Bank oder ein Name auf der Abonnentenliste der behördlich geschlossenen Zeitung „Zaman“. Der Staat ist nach wie vor im Besitz der entsprechenden Unterlagen.

Ebenso sind die Behörden nach wie vor daran interessiert, zu erfahren, wer im Besitz von Hizmet-Literatur war oder Spenden an nahestehende Organisationen geleistet hat. Zu den belastenden Elementen zählt die Führung auch den eigenen ehemaligen Besuch von Gülen-Schulen – und erst recht, die eigenen Kinder dorthin geschickt zu haben.

Ins Visier der türkischen Ermittlungsbehörden oder Nachrichtendienste können einen auch auffällige Social-Media-Aktivitäten oder Kontakte ins Ausland bringen. Dies bezieht sich insbesondere auch auf Reisen nach Pennsylvania zu Lebzeiten des im Oktober 2024 verstorbenen Fethullah Gülen.

Das Risiko einer Verfolgung bemisst sich dabei nicht nur nach tatsächlichem Engagement, sondern häufig auch nach bloßen Zuschreibungen oder sozialen Kontakten. Selbstredend werten die Dienste auch die Verbindungen in sozialen Medien oder Teilnahmen an „verdächtigen“ Veranstaltungen aus.

Türkei teilt Bewegung in sieben Ebenen auf

In ihrer Konstruktion der „Fethullahistischen Terrororganisation“ (FETÖ) hat die türkische Führung 2018 nach einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs eine hierarchische Struktur aus sieben Ebenen entworfen. Diese reicht von losen Unterstützern und Sympathisanten und Mitarbeitern in Schulen oder Nachhilfezentren bis hin zu offiziellen Funktionären und Geheimnisträgern unterschiedlicher Stufen. An oberster Stelle soll eine 17-köpfige Elite stehen.

Mit Strafverfolgung haben dem Bericht zufolge vor allem Angehörige von der zweiten Ebene aufwärts zu rechnen – das wären Mitarbeiter in Institutionen, regelmäßige Spender, Medienredakteure oder Studentenheimleiter. Die Höhe der zu erwartenden Strafe richtet sich nach der Ebene, der die jeweils Beschuldigten zugerechnet werden.

Der Bericht zitiert auch Erkenntnisse der britischen Bürgerrechtsorganisation „Statewatch“. Diese hat unter anderem die „Entlassungslisten“ und Erkenntnisse zur „algorithmischen Verfolgung“ nachgezeichnet, nach der sich die gegen Hizmet gerichteten staatlichen Übergriffe seit 2016 gerichtet haben.

Internationale Dimension: Ankara drängt auf Auslieferungen von Gülen-Anhängern

Die CPIN verweist auch auf die weltweite Verfolgung mutmaßlicher Anhänger. Seit 2016 habe die Türkei nach Angaben des Justizministeriums 1.271 Auslieferungsersuchen an 112 Staaten gestellt, darunter allein 256 an die USA und 483 an EU-Mitglieder. In 126 Personen seien bis Juli 2023 tatsächlich Menschen überstellt worden – vor allem von Staaten in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu Ankara und mit einem erheblichen türkischen Einfluss.

Menschenrechtsorganisationen dokumentierten mindestens 100 Fälle von Entführungen und erzwungenen Rückführungen aus Ländern in Afrika, Asien und sogar Europa. Der Europarat und die Vereinten Nationen kritisierten diese Praxis als Verstoß gegen rechtsstaatliche Standards. Auch das Europäische Parlament wies auf den Missbrauch von Interpol-Notices und bilateralen Abkommen hin. Auf mehreren Seiten der CPIN geht es auch um Folter und unmenschliche Haftbedingungen sowie um fehlende Garantien für eine menschenwürdige Behandlung von Hizmet-nahen Inhaftierten.

Der Bericht macht auch deutlich, dass in so gut wie keinem Land weltweit außer der Türkei das Bestehen einer „FETÖ“ angenommen wird. Auch der britische Bericht unterstreicht, dass Fethullah Gülen und die von ihm inspirierte Bewegung gewaltlos seien. Gülen setze sich für eine „inklusive, moderate Form des sunnitischen Islam“ ein, er predige Toleranz und betone „Altruismus, harte Arbeit und Bildung“.

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