Politik

Dialog auf İmralı: Was der überraschende Öcalan-Besuch bedeutet

  • Dezember 2, 2025
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Dialog auf İmralı: Was der überraschende Öcalan-Besuch bedeutet

Erstmals seit Jahrzehnten trifft eine Parlamentsdelegation den PKK-Gründer Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı. Für Präsident Erdoğan birgt der vorsichtige Dialog mit den Kurden zugleich Risiko und Chance – und bringt auch die Opposition in eine heikle Lage.

Abdullah Öcalan lebte über Jahre hinweg in nahezu vollständiger Isolation auf der Gefängnisinsel İmralı. Dass eine Delegation des türkischen Parlaments ihn nun erstmals seit 26 Jahren offiziell besuchte, zeigt: Die Türkei lebt in einer neuen Realität. Denn das war bis zuletzt undenkbar.

So fand der Besuch unter strengster Geheimhaltung statt – kein Datum, keine Bilder, keine Details zu Inhalten. Nur so viel drang nach außen: Die Gespräche seien „sehr gut“ verlaufen. Das zumindest deutete die DEM-Abgeordnete Gülistan Kılıç Koçyiğit an. Der Besuch ist der vorläufige Höhepunkt eines neuen Friedensprozesses zwischen Ankara und der PKK.

Eine ungewöhnliche Delegation

Öcalan hatte höchstpersönlich zuvor einen Appell an die Terrororganisation gerichtet. Seine Bitte: den bewaffneten Kampf zu beenden und einen politischen Weg einzuschlagen. Diese Botschaft verlieh den Gesprächen in der Türkei eine neue Dynamik – und führte schließlich zu einer breit aufgestellten Parlamentskommission, die an Vorschlägen für eine neue Kurdenpolitik arbeitet.

Politisch bemerkenswert war die Zusammensetzung der Besuchergruppe: Neben der kurdischen DEM-Partei waren auch Vertreter der regierenden AKP und der ultranationalistischen MHP an Bord. Noch vor wenigen Jahren wäre diese Konstellation noch undenkbar gewesen. Dass ausgerechnet die MHP einen ihrer Vizevorsitzenden entsandte, deutet darauf hin, wie ernst Ankara die neue Gesprächsbereitschaft nimmt – oder nehmen muss.

Erdoğan zwischen Anspruch und Abgrund

Für Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Prozess ein Balanceakt. Der politische Gewinn wäre immens: als Staatschef in die Geschichte einzugehen, der den vier Jahrzehnte dauernden Konflikt mit der PKK beendet hat. Doch die Risiken sind ebenso groß. Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung lehnt jede Form von Dialog mit Öcalan oder der PKK ab – eine Organisation, die im Land für fast 50.000 Tote verantwortlich ist.

Gleichzeitig geht Erdoğan mit Härte gegen die größte Oppositionspartei CHP vor. Während er mit der PKK spricht, sitzen CHP-Politiker im Gefängnis oder sehen sich Ermittlungen ausgesetzt. Die Paradoxie ist offenkundig – und erschwert der CHP eine konstruktive Rolle im Friedensprozess. Parteichef Özgür Özel kritisiert vor allem die Intransparenz der Verhandlungen und verweist auf fehlende Rechtsstaatlichkeit.

Die Zwickmühle der Opposition

Die CHP beteiligte sich zwar an der großen Kommission zur Zukunft der Kurden, entsandte jedoch bewusst niemanden nach İmralı. Die Frage ist schließlich: Wie soll eine Partei glaubwürdig an einem Versöhnungsprozess teilnehmen, während ihre eigenen führenden Köpfe – darunter Istanbuls früherer Bürgermeister Ekrem İmamoğlu oder Ankaras Stadtoberhaupt Mansur Yavaş – juristisch verfolgt werden?

Türkei und PKK: Hoffnung auf Frieden scheint dieses Mal größer

Auch international wächst der Druck. Selbst die Empfehlung des MHP-Chefs Devlet Bahçeli, den seit Jahren inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş freizulassen, verhallt bisher ungehört. Ankara ignoriert weiterhin die eindeutigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Was der Prozess wirklich braucht

In Kürze will die Parlamentskommission ihren Abschlussbericht vorlegen – und damit den Moment der Wahrheit einläuten. Ohne substanzielle Schritte in Richtung kultureller und politischer Gleichberechtigung der kurdischen Minderheit dürfte jede Hoffnungswelle schnell verebben. Bisher aber hat Erdoğan konsequent vermieden, konkrete Zugeständnisse zu machen.

Der Besuch auf İmralı zeigt, dass Bewegung möglich ist. Ob daraus ein wirklicher Neuanfang entsteht oder ein weiterer gescheiterter Anlauf, wird davon abhängen, ob Ankara und die PKK bereit sind, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen – und ob die Türkei den Mut findet, für Frieden nicht nur zu verhandeln, sondern auch politische Kosten zu tragen.

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Stefan Kreitewolf