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Politik

Die Rolle der Türkei im sich neu formierenden Nahen Osten

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In der Region vollziehen sich Entwicklungen derzeit in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Die seit Jahrhunderten angesammelte sozio-politische Machtstruktur lässt geradezu geopolitische Vulkanausbrüche befürchten. (Foto: aa)

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Die Rolle der Türkei im sich neu formierenden Nahen Osten
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Der Nahe Osten passt nicht mehr in die künstliche geopolitische Schablone, die nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich und England entworfen worden war. Mehr als 20 Jahre nach dem Kalten Krieg, dessen Ende die politische und strategische Landkarte der Welt nachhaltig verändert hat, befinden wir uns mittendrin in einem Prozess, der historische Ausmaße aufweist. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass derzeit ein neuer Naher Osten entsteht. Doch was für ein neuer Naher Osten wird dieser sein? Ein „neuer Naher Osten“, wie ihn sich Shimon Peres in seinem 1990 veröffentlichten Buch beschrieben hatte? Oder ein völlig anderer neuer Naher Osten, der ganz andere Dynamiken und Ergebnisse erreichen wird?

Der Lösungsprozess mit Blick auf die Kurdenproblematik, den die Türkei mit der Terrororganisation PKK begonnen hat, die Entschuldigung Israels für die Todesfälle auf der „Mavi Marmara“ während des Obama-Besuches und auch die Annäherung Israels an die von der Türkei vorgegebenen Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehung spiegeln anschaulich die riesige Flut von Veränderungen wieder. Vor allem aber die Entwicklungen in Syrien und im Irak weisen eine Schrittmacherfunktion für den Aufbau eines neuen Nahen Ostens auf. Dass die blutigen Auseinandersetzungen unter den Rechtsschulen und Ethnien in diesen Ländern zu internationalen Kettenreaktionen, welche die Grenzen dieser Länder überschreiten, führen und noch führen werden, ist offensichtlich. Es ist offenkundig, dass diese Situation Israel dazu gezwungen hat, sich bei der Türkei zu entschuldigen und die Türkei dazu motiviert hat, diese Entschuldigung im Interesse der Normalisierung der wechselseitigen Beziehungen unverzüglich anzunehmen.

Wird kein Stein mehr auf dem anderen bleiben?

Auf der anderen Seite bedeutet die Entstehung eines „neuen Nahen Ostens“ auch die Entstehung einer neuen Türkei, deren politisch-administratives System, ja vielleicht sogar auch deren Grenzen weitgehend anders sein werden als heute. Und es werden im Rahmen des „neuen Nahen Ostens“ auf der Basis der kulturellen, ethnischen und religiösen Verhältnisse auch ein von Grund auf neu geformtes Syrien und auch ein neuer Irak geschaffen werden. Während der Bildung eines neuen Nahen Ostens werden wir Zeugen einer Situation, im der nicht nur die Staaten, sondern auch die nichtstaatlichen Akteure höchstwahrscheinlich ihren Charakter und ihre Form ändern werden.

Im Rahmen der Verhandlungsprozesse zählen die absehbaren Organisations-, Missions-, Funktions- und Zieländerungen der PKK zu den ersten Anzeichen einer Bemühung der Terrororganisation, sich an diese Situation anzupassen. Auch das Auftauchen der Terrororganisation DHKP-C, welche sich zuvor seit Jahren im Schlaf befunden hatte, genau zu diesem Zeitpunkt, könnte mit dem Untergang der alten Ordnung des Nahen Ostens und der Gründung des neuen Nahen Ostens eng in Verbindung stehen. Obgleich man darüber nicht zu viel sprechen möchte, ist es meiner Meinung nach nicht möglich, die neue Rolle der PKK in der Türkei und in der Region und deren neue Form – nachdem sie die Waffen abgelegt hat – in einem anderen Kontext zu beurteilen.

Wenn wir noch genauer sein wollen, können wir diesen Faktor als sinnbildlich dafür herausstreichen, zu welcher Art von grundlegenden Änderungen dieser neue Nahe Osten in den umliegenden Ländern führen wird.

Es ist unverkennbar, dass die bestehende territoriale Integrität und die nationale Einheit Syriens und des Irak weder den religiösen noch den ethnischen Auseinandersetzungen standhalten werden. Und Nuri-i El Maliki treibt diese Entwicklung der Spaltung durch seine sektiererische Politik mit eigenen Händen voran. Die ernsthaften Spannungen zwischen Bagdad und der kurdischen Regionalregierung im Nordirak haben den Punkt der Unumkehrbarkeit bereits überschritten. Die sunnitischen Araber sehen die Lösung nun darin, mit ihren eigenen Identitäten klar zu kommen und in Regionen wie Anbar – wo sie sich in Mehrheit befinden – ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der Irak in mindestens drei Regionen geteilt werden wird.

Bunter Flickenteppich an neuen Staaten zu erwarten

In Syrien wiederum gibt es keine Chance für Diktator Baschar al-Assad, die Einheit und Integrität des Landes dauerhaft aufrechterhalten und schützen zu können. Es ist aber auch zu erkennen, dass die Oppositionellen – die Assads Stelle einnehmen werden – es wegen ihrer eigenen Heterogenität sowie wegen der Kluft zwischen ihnen und den Assad-Anhängern, nicht leicht haben werden, Syriens Einheit und Integrität sicherzustellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nusairier, die Nichtmuslime und mit ihnen verbündete Gruppen – welche bis heute als Minderheit in Syrien regiert haben – in einem kleinen Staat, den sie in einem Teil des Landes gründen werden, Zuflucht finden werden, wird mit jedem Tag stärker. Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu vermuten, dass in so einer Situation ebenfalls die Kurden im Norden des Landes die Geltendmachung ihrer eigenen Souveränität beabsichtigen. Für eine Zusammenarbeit der syrischen sunnitischen Araber – welche die Mehrheit in Syrien stellen – und den irakischen Sunniten – welche genau die gleiche Kultur besitzen – sehe ich überhaupt keine Hindernisse.

Zusammengefasst sieht die Situation also wie folgt aus: Die Wahrscheinlichkeit, dass in Syrien mindestens zwei neue politische Einheiten entstehen werden und die einzelnen politischen Einheiten sich mit ihren kulturellen Verwandten vereinigen werden, ist groß. Demgemäß können die Bildung eines nusairisch-christlichen Staates; eines gemeinsamen sunnitisch-arabischen Gemeinwesens der sunnitischen Araber im heutigen Syrien und im heutigen Irak; eines Staates einer von Bagdad völlig unabhängigen Regionalregierung Kurdistan (KRG) und einer, das KRG-Modell zum Beispiel nehmenden, nordsyrisch-kurdischen Einheit erwartet werden. Auf diese Weise können wir in der Umgebung von Bagdad/Basra sowie an der Grenze Irans mit einem schiitischen Staat und im Umkreis von Lazkiya auch an der iranischen Grenze mit einem nusairischen Staat konfrontiert werden. Hinsichtlich einer Unterstützung von außen werden weder der Iran diese zwei Neugründungen, noch Syrien das „große Sunnitistan“, das von den syrischen und irakischen Sunniten gegründet werden könnte, im Stich lassen.

Türkei als föderalistische Einheit von Türken und Kurden?

Die kurdischen Regionen im Irak und in Syrien könnten jedoch in Bezug auf das politische und administrative System als Bestandteil einer neuen Türkei – welche sich durch eine radikale Veränderung ihrer Form in eine föderalistische Entität verwandeln wird – angesehen werden. Die neu geformte Struktur der Bedingungen und Allianzen des entstehenden neuen Nahen Ostens könnte den irakischen und syrischen Kurden keine andere Möglichkeit lassen, als sich gemeinsam mit der Türkei voran zu bewegen, eine gemeinsame Zukunft zu begründen und ein gemeinsames Schicksal zu teilen. In gleichem Maße würde eine solche Situation die Türkei – die mit dem Iran und der weiten arabischen Welt konfrontiert ist – und Israel – das durch diese Entwicklungen in existenzielle Sorgen geraten würde – erneut voneinander abhängig machen. Wenn wir vor diesem Hintergrund die Entschuldigung Israels und den Wunsch der Türkei, die Beziehung zwischen den beiden Staaten wieder zu normalisieren, als einen Teil des Szenarios bewerten, denke ich nicht, dass wir dabei übertreiben.

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Autoreninfo: Keneş ist Chefredakteur der englischsprachigen Tageszeitung Today’s Zaman in der Türkei.