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Diskriminierung und Stammtisch-Strukturen: Warum Zugewanderte politisch seltener aktiv sind

  • April 11, 2025
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Diskriminierung und Stammtisch-Strukturen: Warum Zugewanderte politisch seltener aktiv sind

Nach der Bundestagswahl sind Menschen mit Migrationshintergrund mit 11,6 Prozent der Abgeordneten weiterhin unterrepräsentiert. Auch jenseits von Wahlen zeigen sich Lücken, wie eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) aufzeigt. Nora Storz erklärt im DTJ-Online-Interview, warum.

Frau Storz, warum, glauben Sie, engagieren sich junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte seltener politisch als andere? Liegt es eher an mangelnden Zugängen oder an fehlendem Interesse?

Elf Prozent der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte unter 36 Jahren engagieren sich politisch und 40 Prozent der Befragten im gleichen Alter ohne Zuwanderungsgeschichte. Unsere Studie hat zwar gezeigt, dass das politische Interesse junger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte etwas geringer ausgeprägt ist, als das junger Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Dennoch bin ich überzeugt, dass dies nicht allein die Ursache der starken Diskrepanz zwischen dem politischen Engagement junger Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte ist. Die Gründe sind vielfältig: Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wachsen in der Regel politikferner auf. So besuchen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte auch überdurchschnittlich häufig niedrigere Schulformen, an denen es in der Regel weniger Politikunterricht gibt. Auch außerschulische politische Bildungsangebote erreichen sie häufig nicht. Es fehlt also an inklusiven Zugängen zur politischen Bildung.

Viele berichten von Diskriminierung in politischen Räumen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus, sich überhaupt zu engagieren? Kann das auch ein Ansporn sein, um etwas zu verändern?

Diskriminierung in politischen Räumen führt häufig zum Rückzug. Manche junge Menschen finden daraufhin inklusivere Räume, in denen sie sich politisch engagieren, andere ziehen sich aus der Politik zurück. Diskriminierungserfahrungen im Alltag können dann motivieren, politisch aktiv zu werden, wenn junge Menschen das Gefühl haben, dass sie politisch auch etwas bewegen und die Gesellschaft durch ihr Engagement positiv beeinflussen können.

Politik kann oft trocken und kompliziert wirken – gerade für junge Menschen. Was müsste sich ändern, damit sie sich mehr angesprochen fühlen?

Politische Schulbildung sollte nicht nur trockene Fakten über Politik und politische Prozesse vermitteln, sondern Politikunterricht lebendiger und praxisnäher gestalten, als etwas, was uns alle betrifft. Das kann durch Exkursionen zum Beispiel in Landes- oder Kommunalparlamente geschehen, aber auch durch Planspiele oder Diskussionsrunden im Politikunterricht.

Parteien gelten oft als „geschlossene Clubs“. Wie können sie sich für junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte öffnen? Welche Signale oder Maßnahmen würden da helfen?

Parteien könnten themenspezifisches Engagement anbieten. Dies würde sie zugänglicher machen, ohne dass eine direkte parteipolitische Bindung nötig ist. Dadurch würden politische Strukturen an junge Menschen herangetragen und Zugänge in die Parteipolitik geschaffen. Vielleicht würden sich einige der themenspezifisch eingebundenen Menschen dann auch für ein langfristiges Engagement in einer Partei entscheiden.

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Wie wichtig sind Vorbilder in der Politik? Macht es einen Unterschied, wenn junge Menschen sehen, dass auch Menschen mit ähnlicher Herkunft erfolgreich politisch aktiv sind?

Vorbilder sind sehr wichtig, um sich für ein politisches Engagement zu entscheiden. Wenn man das Gefühl hat, dass Politik sehr weiß, männlich und mittelalt bis alt geprägt ist, schreckt dies viele junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ab, selbst politisch aktiv zu werden. Insofern können junge Vorbilder mit einer Zuwanderungsgeschichte, die womöglich der eigenen ähnelt, dazu beitragen, dass sich Menschen entscheiden, auch selbst aktiv zu werden. Politik wird dann als etwas wahrgenommen, bei dem junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte mitmischen können und dürfen.

Social Media spielt für junge Menschen eine riesige Rolle. Wird das Potenzial hier genug genutzt, um sie politisch zu erreichen? Was könnte man besser machen?

Ich bin keine Expertin im Bereich der sozialen Medien. Aber: In den qualitativen Interviews mit jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wurden die sozialen Medien immer wieder erwähnt als etwas, worüber mehr Menschen erreicht werden könnten, wenn sie gut genutzt werden. Wir haben so auch bei der letzten Bundestagswahl gesehen, dass die Linke es geschafft hat, durch die Nutzung sozialer Medien gerade junge Menschen anzusprechen. Parteien und Parteipolitiker*innen sollten sich also auf keinen Fall vor dem Gebrauch sozialer Medien verschließen.

Viele Menschen engagieren sich lieber in Vereinen oder Initiativen als in klassischen Parteien. Was sagt das über unser politisches System aus – und wie kann man diese Energie vielleicht besser einbinden?

Zunächst ist es ja gut, wenn es Vereine oder Initiativen gibt, in denen sich auch junge Menschen engagieren. Diese Art des Engagements kann auch einen Einfluss auf Parteipolitik nehmen. Natürlich funktioniert unser System langfristig aber nur, wenn Parteien Mitglieder haben. Parteien müssen also attraktiv sein für junge Menschen und auch für den immer größer werdenden Teil der Gesellschaft mit Zuwanderungsgeschichte. Unseren Interviews zufolge sind sie das derzeit nur sehr bedingt.

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Inwiefern?

Die quantitativen Daten zeigen, dass viele junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht wissen, wie sie sich engagieren können und über kein entsprechendes Netzwerk verfügen, das sie der Parteipolitik näherbringen würde. Auch die Sorge vor Diskriminierung hält einige von einer politischen Beteiligung ab. In den qualitativen Interviews berichteten die Befragten immer wieder, dass tatsächliches Engagement nach einem Parteibeitritt schwierig sei aufgrund von sogenannten Stammtisch-Strukturen. Genannt wurden zum Beispiel Treffen von Ortsgruppen in Kneipen, an denen Neumitglieder zwar auch teilnehmen könnten, sich aber häufig durch die eingeschworene Gruppe ausgeschlossen fühlten. Hier müssen sich die Parteien auch aus Eigeninteresse öffnen – denn sie wollen ja auch in Zeiten des demografischen Wandels weiterhin Mitglieder gewinnen.

Was sind Ihrer Meinung nach die drei wichtigsten Maßnahmen, die Politik, Bildung und Gesellschaft ergreifen sollten, um die politische Teilhabe junger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wirklich zu stärken?

Erstens: Politikunterricht muss inklusiv und ab jungen Jahren und an allen Schulen angeboten werden sowie anschaulich, lebensnah und attraktiv gestaltet sein. Auch das außerschulische politische Bildungsangebot muss erweitert werden und gezielt auch an Orten angeboten werden, die von jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte vermehrt aufgesucht werden.

Zweitens: Zugänge müssen geschaffen werden. Das heißt, wir brauchen mehr sichtbare und niedrigschwellige Zugänge zu Projekten für politische Teilhabe. Und es braucht zugleich auch politische Parteien, die Diversität in der Politik fördern und Vorbilder sichtbar machen. Dazu könnten Parteien eine Mitarbeit ohne Parteimitgliedschaft anbieten. Eine weitere Maßnahme wäre das flächendeckende Einrichten von Jugendräten, denen dann auch ein verbindlicheres Mitspracherecht auf kommunaler Ebene gewährt werden sollte.

Und drittens muss gesamtgesellschaftlich daran gearbeitet werden, dass Rassismus und Diskriminierung abgebaut werden. Neben einem sichtbaren Angebot von Antidiskriminierungsstellen sollten Parteimitarbeitenden, Lehrkräften und Sozialarbeitenden antirassistische Schulungen angeboten werden. Auch sollte es mehr sichere Räume für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte geben, in denen sie sich ohne Sorge vor Diskriminierung frei zu politischen Themen austauschen und Erfahrungen teilen können.

Dr. Nora Storz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR).

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Stefan Kreitewolf