Menschenrechte Politik

EGMR-Urteil zu ByLock: Türkei verletzt in Terrorprozessen grundlegende Rechte

  • Juli 24, 2025
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EGMR-Urteil zu ByLock: Türkei verletzt in Terrorprozessen grundlegende Rechte

Mit einem richtungsweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei erneut wegen schwerer Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren verurteilt – und damit das Fundament zahlreicher „FETÖ“-Prozesse in Frage gestellt. Das Gericht bestätigt: Die Nutzung der ByLock-App rechtfertigt keinen Terrorvorwurf.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ein zentrales Narrativ der türkischen Regierung und ihrer „Antiterror“-Prozesse ein weiteres Mal erschüttert. Am Dienstag verkündete der Gerichtshof sein Urteil in der Sache Demirhan et. al. gegen die Türkei. Insgesamt 239 Menschen, die dort wegen angeblichen „Terrorismus“ verurteilt wurden, hatten geklagt.

Der EGMR hat in seiner Entscheidung noch einmal das unterstrichen, was er bereits 2023 in seinem Urteil im Fall Yüksel Yalçınkaya deutlich gemacht hat: Demnach verletzt eine Verurteilung das Recht auf ein faires Verfahren, die sich im Wesentlichen auf den bloßen Umstand der Nutzung einer bestimmten Messenger-App stützt.

ByLock als zentrales Element im Weltbild Ankaras

Auch in den Prozessen gegen die nunmehrigen Kläger stützte die türkische Justiz sich darauf, dass die Angeklagten die ByLock-App auf ihren Smartphones installiert hatten. Diese gilt im Narrativ der Regierung als ein exklusives Kommunikationstool der Gülen-Bewegung, die nur in der Türkei als Terrororganisation verfolgt wird.

Die türkische Regierung macht die Bewegung des 2024 in den USA verstorbenen Fethullah Gülen für den Putschversuch einiger Militärs vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Tatsächlich gibt es keinerlei belastbare Beweise dafür, dass die Bewegung in ihrer Gänze etwas mit dem versuchten Staatsstreich zu tun hat. Vieles deutet stattdessen auf Kreise innerhalb der Armee selbst hin, die mit der außenpolitischen Ausrichtung der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan haderten.

Nun hat die zuständige Kammer am EGMR erneut deutlich gemacht, dass der Umstand der Verwendung von ByLock für sich allein nicht ausreicht, um eine Verurteilung wegen „Terrorismus“ zu rechtfertigen.

EGMR: Beweisführung der Türkei nicht tragfähig

Die Straßburger Richter stellten fest, dass die türkischen Richter die bloße Verwendung von ByLock als automatischen Beweis für eine Zugehörigkeit zum Gülen-Netzwerk betrachteten. Dabei hätten die nationalen Gerichte weder untersucht, welche Art der Kommunikation tatsächlich stattgefunden habe.

Auch hätten die Gerichte keine Beweise über die jeweilige Absicht der jeweiligen Nutzer bei der ByLock-Verwendung erhoben. Auch untersuchte man nicht, ob und gegebenenfalls welche Verbindung die jeweiligen Angeklagten zur internen Struktur der Gruppe gehabt hätten. Zur Beweiswürdigung führte der EGMR aus: „Die Feststellung der bloßen Verwendung von ByLock diente für sich genommen als schlüssiger Beweis für das Vorhandensein aller Bestandteile des Verbrechens.“

Eine solche Argumentation verstoße gegen zentrale Rechtstaatsprinzipien, urteilte der Richtersenat. Unter anderem verletze das Vorgehen die Regel „nulla poena sine lege“ – also, dass niemand für ein Verhalten bestraft werden könne, das zum Zeitpunkt des Handelns nicht eindeutig als tatbestandsmäßig definiert war. Damit genügten die Verfahren nicht den grundlegenden Standards der Fairness nach den internationalen Menschenrechtsnormen.

Türkei ignoriert Urteile aus Straßburg bislang konsequent

Der EGMR beanstandete außerdem den Umgang der türkischen Staatsanwaltschaft mit digitalen Beweismitteln. Anklagen und Urteile stützten sich in massiver Weise auf Benutzer-IDs und IP-Adressen. Diese wurden von ByLock-Servern extrahiert und mit nationalen Internetdaten abgeglichen. Die Angeklagten hätten keine Gelegenheit gehabt, die Richtigkeit oder den Kontext dieser Beweise in Frage zu stellen.

Auch dies habe einen erheblichen Verfahrensmangel dargestellt. „Das Versäumnis der nationalen Gerichte, angemessene Garantien zu gewährleisten“, so hieß es in der Urteilsbegründung, „war mit dem Wesensgehalt der Verfahrensrechte der Antragsteller unvereinbar“. Dass die Staatsanwaltschaft auch noch Beweismittel wie Bank Asya-Kontounterlagen oder Zeugenaussagen aufführten, ändere nichts an der entscheidenden Bedeutung von ByLock für die Verurteilung.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Türkei kann innerhalb von drei Monaten eine Befassung der Großen Kammer des Gerichts beantragen. Sollte auch diese die Entscheidung bestätigen, hätten die Beschwerdeführer ein Recht, ihre Strafverfahren vor den nationalen Gerichten wieder aufnehmen zu lassen. Faktisch hat das bislang jedoch kaum Besserung gebracht: Bis dato haben die türkischen Gerichte, wenn es um „FETÖ“-Prozesse ging, die Entscheidungen des EGMR stets ignoriert.

Mehr als ein Drittel aller anhängigen EGMR-Fälle haben Bezug zur Türkei

Die Behörden haben seit dem Putschversuch mehr als 25.000 Menschen festgenommen, die der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung beschuldigt werden, schreibt „Euractiv“. Von diesen seien etwa 9.000 in Untersuchungshaft sind, wie die Staatsanwaltschaft Istanbul mitteilte.

Der Gerichtshof stellte fest, dass es sich um ein „systemisches Problem“ handele, das eine große Zahl von Menschen betreffe und das auf nationaler Ebene gelöst werden müsse. Seit dem Urteil der Großen Kammer im Verfahren Yalçınkaya aus dem Jahr 2023 habe das Gericht die beklagte Regierung bereits über „5.000 ähnliche Anträge“ informiert, die seither eingegangen seien. Ende Juni waren demnach 21.050 Anträge auf Überprüfung von Urteilen beim EGMR anhängig – das seien 35 Prozent der Gesamtzahl. Mit deutlichem Abstand folgten Fälle aus der Russischen Föderation (8.050; 13,4 Prozent) und der Ukraine (7.300; 12,1 Prozent).

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