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Erdbeben in Istanbul: Expertenmeinungen gehen extrem auseinander

  • April 30, 2025
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Erdbeben in Istanbul: Expertenmeinungen gehen extrem auseinander

Die Mega-Metropole Istanbul liegt in einer besonders erdbebengefährdeten Zone entlang der Nordanatolischen Verwerfung. Das erschreckende Beben von vergangener Woche erschütterte die Stadt mit einer Stärke von 6,2. Das Epizentrum im Marmarameer nahe Silivri, etwa 80 km westlich der Stadt, hat die Menschen sehr verunsichert. Seit Tagen kehren sie nicht mehr in ihre Häuser zurück, sitzen in Parks oder überall dort, wo sie nicht von maroden Gebäuden umzingelt sind. Wie geht es nun weiter?

Das Beben in nur rund 7  Kilometer Meerestiefe ließ ganze Wohnblöcke und Einkaufszentren in Istanbul schwanken. Viele Menschen rannten in Panik ins Freie. Dabei wurden mindestens 151 Personen verletzt, vor allem als Folge unkontrollierter Fluchtversuche aus höheren Stockwerken.

Größere Gebäudeschäden oder Todesopfer blieben zum Glück aus. Dennoch ist die Angst da. Das Beben ruft die mahnenden Worte der türkischen Seismologie im Unterbewusstsein hervor.

„In Istanbul könnte es knallen“

Die Menschen kommen trotz vergleichsweise geringer Auswirkungen nicht zur Ruhe. Wie denn auch? Unmittelbar nach dem Hauptbeben wurden Hunderte Nachbeben registriert, einige mit Magnituden über 5.

Und diese Beben ziehen an der Istanbuler Küste in Richtung Osten, also weiter in die Türkei hinein. Es werden sogar kleinere Beben in Anatolien vermeldet, was auch die Bürger anderer Städte beunruhigt. So rückt die Frage in den Vordergrund, ob es sich lediglich um ein moderates Einzelereignis handelte – oder um einen Vorboten des seit Langem befürchteten „großen Bebens“ in Istanbul.

Zwei türkische Experten – zwei verschiedene Ansichten

Die Bewertung der Lage fällt unter Experten unterschiedlich aus. Zwei prominente türkische Geowissenschaftler, Prof. Dr. Naci Görür und Prof. Dr. Şener Üşümezsoy, vertreten dabei gegensätzliche Positionen. Görür, ein international anerkannter Erdbebenforscher – warnt seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in der Marmara-Region. Seine tragische Vorhersage beim letzten großen Beben in der Türkei hat ihn zu einem der landesweit anerkanntesten Stimmen gemacht. Der bescheidene Forscher übt sich nicht mehr in Zurückhaltung.

„In Istanbul wird es knallen. Es wird Hunderttausende, vielleicht sogar über eine Millionen Tote fordern. Die Frage ist nicht ob, sondern wann es passieren wird“, erklärte Görür kürzlich. Tatsächlich hatte er schon 2022 auf die Gefahr in der Südosttürkei (Hatay/Kahramanmaraş) hingewiesen, wo es im Februar 2023 zu einer Katastrope kam. Angesichts des aktuellen Bebens vom 23. April mahnt Görür nun erneut zur Vorsicht: Eine Entwarnung sei verfrüht, das eigentliche Hauptbeben stehe noch aus. „Das ist nicht das Erdbeben, worauf wir warten!“, so der Experte weiter.

Prof. Dr. Görür hatte das Erdbeben 2023 vorhergesagt

Die jüngsten Erschütterungen hätten die Spannungen an der tektonischen Plattengrenze im Marmarameer sogar weiter erhöht. Mit anderen Worten: Das Risiko für ein zukünftiges großes Beben in Istanbul habe eher zugenommen. Görür ruft die Behörden daher auf, die Stadt dringend auf ein Beben dieser Größenordnung vorzubereiten – etwa durch Ertüchtigung gefährdeter Bausubstanz und bessere Notfallpläne. Er erinnert daran, dass ein Beben der Stärke 7 ein Vielfaches (etwa zehnmal) der Energie eines Bebens der Stärke 6 freisetzt und in der dicht besiedelten 16-Millionen-Stadt potenziell Hunderttausende Leben bedrohen würde.

Laut Görür müsse sich die Türkei als ein Erdbebenland an Japan, Indien und Taiwan orientieren. Die hätten das Problem nicht mehr. Erdbeben der Stärke 7 und aufwärts gehörten in diesen Ländern zum Teil des nationalen Sicherheitskonzepts. Keiner oder kaum jemand würde dabei zu Schaden kommen.

Prof. Dr. Şener Üşümezsoy: „Alles Quatsch!“

Alles Angstmacherei? Prof. Dr. Şener Üşümezsoy – ebenfalls ein erfahrener Geologe – beurteilt die Situation nämlich weitaus entspannter. Der Professor mit dem Cowboy-Hut hatte nach Medienberichten das April-Beben mit Stärke 6,2 sogar etwa 20 Tage im Voraus prognostiziert. Seiner Analyse nach handelte es sich um ein erwartbares Ereignis auf dem Silivri-Teilstück der Marmara-Verwerfung.

Er ist der Ansicht, dass derzeit keine akute Gefahr eines „großen“ Bebens in Istanbul besteht. Üşümezsoy argumentiert, die maßgeblichen Bruchzonen im Marmarameer seien bereits in früheren Erdbeben gerissen und hätten sich entladen – etwa westlich bei Tekirdağ (im großen Ganos-Beben 1912) und östlich vor Istanbul (im historischen Beben von 1894).

Die noch aktive Störungsstrecke beschränke sich auf das Silivri–Kumburgaz-Segment, welches zwar Beben um die Magnitude 6 auslösen könne, aber kein viel stärkeres. „Diese Linie kann ein weiteres Beben der Stärke 6,2 erzeugen, aber nicht mehr“, erklärt Üşümezsoy. „Und das auch nicht in absehbarer Zeit!“

Eine Erdbeben-Serie mit je kleinerer Stärke

Vorhersagen, die von einer Stärke 7 aufwärts in der Marmara-Region ausgehen, hält Üşümezsoy für wissenschaftlich unbegründet. Ein Beben mit zerstörerischer Kraft brauche einen Erdbebenriss, der sich bis nach Chalkidiki in Griechenland erstrecke. Statt eines einzigen „Mega-Bebens“ erwarte er eher eine Serie moderater Beben oder Nachbeben („Erdbebenfrieden“), die lokal begrenzte Effekte wie Hangrutschungen auslösen könnten.

Insgesamt sehen Üşümezsoy und einige gleichgesinnte Fachleute das Risiko in Folge des jüngsten Bebens sogar gesunken – gewissermaßen als „Druckablass“ der Verwerfung. Diese eher beruhigende Einschätzung steht jedoch im Gegensatz zur Einschätzung Görürs und vieler anderer Seismologen.

Der internationale Blick: Die Nordanatolische Verwerfung und die historischen Wiederholungen bereiten Sorgen

Unabhängig von individuellen Meinungen der Experten zeichnet die geowissenschaftliche Forschung ein klares Bild: Istanbul ist aufgrund seiner tektonischen Lage einem hohen Erdbebenrisiko ausgesetzt. Und das nicht seit gestern. Die Nordanatolische Verwerfungszone (kurz NAFZ) ist eine der aktivsten und längsten Transformstörungen der Welt, an der die Anatolische Platte nach Westen an der Eurasischen Platte vorbei gleitet.

Diese Bruchzone erstreckt sich über mehr als 1000 km von Ostanatolien bis ins Marmarameer und weiter in die Ägäis. Quasi wie ein Strich zieht sie den Pfad der alten Pilgerer nach.

Historisch kam es entlang der NAFZ immer wieder zu schweren Erdbeben, die sich oft in westlicher Folge auf benachbarte Segmente fortpflanzten. So löste eine Erdbebenserie im 20. Jahrhundert – beginnend im Osten (Erzincan 1939) – schrittweise Beben Richtung Westen aus, bis hin zum verheerenden İzmit-Beben von 1999 (7,6) nur etwa 90 km östlich von Istanbul. Prof. Dr. Naci Görür wird seither nicht müde davon, zu behaupten, innerhalb von 30 Jahren könnte Istanbul dran sein. Seither ist Üşümezsoy indes ein Bestreiter. Doch international gilt insbesondere das Marmarameer als gefährliche seismische Lücke.

Was heißt seismische Lücke?

Der unterseeische Abschnitt direkt südlich von Istanbul hat seit über 250 Jahren kein großes Beben mehr erzeugt. In den Abschnitten ringsherum jedoch schon. Diese Fläche mit den Rissen im Boden bildet eine sogenannte seismische Lücke. Ein Bereich, der unter Geologen zwingend einen großen Bruch erleiden muss.

Durchschnittlich alle ca. 250 Jahre entlädt sich dort jedoch ein starkes Beben – das letzte ereignete sich im Jahr 1766. Rein statistisch wäre also um 2016 ein weiteres großes Beben fällig gewesen; die Region damit überfällig für ein starkes Ereignis.

Aktuelle Studien untermauern diese Sorge. Berechnungen des seismologischen Observatoriums Kandilli schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Bebens der Magnitude ≥7 bis 2030 auf etwa 60 % . Geowissenschaftler verschiedener Länder kommen zu ähnlichen Einschätzungen: Anhand von GPS-Messungen, historischen Daten und seismologischen Modellen wird ein Erdbeben der Größenordnung 7–7,5 in der Marmara-Region als sehr wahrscheinlich in naher Zukunft angesehen.

Deutsche Forscher bekräftigen Prof. Dr. Naci Görür

Forscher des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) in Potsdam betonen, dass das Marmara-Teilstück der NAFZ genügend Spannungsenergie für ein Beben bis etwa Magnitude 7,4 gespeichert hat. Ein solcher Stoß würde am Standort Istanbul etwa 60-mal stärkeres Beben verursachen als das 6,2-Beben vom April.

Marco Bohnhoff vom GFZ erläuterte zwei Szenarien nach dem aktuellen Ereignis: Entweder ist die lokale Spannung durch das jüngste Beben teilweise abgebaut und es folgt zunächst Ruhe – oder die durch das Beben verursachte Spannungsverschiebung erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit eines größeren Bebens in der Region. Auch Bomhoff formuliert einen Satz wie das Görür-Üşümezsoy-Paradoxon.

Weitere Gefahr durch Tsunamis möglich

Doch mit Blick auf internationale Stimmen scheint sich die Meinung von Görür klar durchzusetzen. Welche Entwicklung eintritt, lasse sich zwar erst nach einer Beobachtungsphase beurteilen. Doch auch Oliver Heidbach (GFZ) warnt, das „Mega-Beben“ mit einer Stärke bis zu 7,4 sei geologisch betrachtet bereits überfällig und könne jederzeit eintreten, inklusive der Gefahr von Folgewellen (Tsunamis) im Marmarameer.

Die Metropolregion Istanbul steht zweifellos vor einer großen seismischen Herausforderung. Das Beben vom 23. April hat die Bevölkerung und Behörden wachgerüttelt, ohne gravierende Schäden anzurichten – doch es warnt eindringlich vor dem, was noch kommen könnte.

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