Erdoğan erklärt „Süleymancılar“ zum Feind: Neue Kampagne gegen religiöse Bewegung in der Türkei?

Die türkische Regierung geht nun offenbar auch gegen die Süleymancılar vor – eine islamisch-sufistische Bewegung mit langer Tradition. Präsident Erdoğan bezeichnete sie als „Krake“ und „dunkle Organisation“. Kritiker erinnern an den Beginn der Repressionen gegen die Gülen-Bewegung. Droht ein neuer Schlag gegen religiöse Unabhängigkeit?
Die türkische Regierung hat offenbar ein neues Feindbild auserkoren. Wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich am letzten Mittwoch vor der AKP-Fraktion im türkischen Parlament erklärte, gelten mittlerweile auch die sogenannten Süleymancılar oder Süleymanlılar (Eigenbezeichnung) in der Türkei als „dunkle Organisation“ und „Krake“.
Die Führung in Ankara wirft der seit den 1920er Jahren existierenden islamischen Bewegung vor, staatliche Institutionen, Geheimdienste, aber auch Wirtschaft und Medien unterwandert zu haben. Die Vorwürfe erinnern an die Anfänge der staatlichen Kampagne gegen die Gülen-Bewegung vor über zehn Jahren. Vier Mitglieder der Gemeinde sollen noch am Tag der Erdoğan-Rede in der Türkei verhaftet worden sein.
Woher die Süleymancılar stammen
Die dem sufistischen Naqshbandi-Orden nahestehende Bewegung geht auf den Gelehrten Süleyman Hilmi Tunahan zurück. Dieser 1888 auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien geborene Naqshbandi-Scheich hatte bereits in den 1920er-Jahren Arabisch und Türkisch an islamischen Hochschulen, den Medreses, gelehrt. Im Jahr 1938 erhielt er eine Lehrerlaubnis von der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, die ihm jedoch 1943 wieder entzogen wurde.
1950 erhielt er diese zurück, dennoch wurde er wiederholt in Haft genommen und misshandelt. Grund dafür war vor allem, dass Tunahan sich um einen eigenständigen Weg in der islamischen Lehre bemühte und dabei häufig Vorgaben der Religionsbehörde missachtete. In Konya unterhielt er sogar ein privates Koran-Internat. Obwohl er nach seinem Tod im Jahr 1959 lediglich ein siebenseitiges Lehrheft zur arabischen Schrift hinterließ, hatten die Anhänger, die er zeitlebens um sich geschart hatte, seine Lehren mündlich weiterverbreitet.
Während der 1960er Jahre entspannte sich das Verhältnis zwischen der Diyanet und der Bewegung. Anhänger Tunahans konnten sich in den staatlichen Imam-Hatip-Schulen ausbilden lassen. Die Süleymancılar verstanden es auch, innerhalb der türkischen Diaspora Muslime zu organisieren – und gründeten in Deutschland 1973 den Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Nach der Ahmadiyya-Gemeinde stellen sie damit den zweitältesten heute noch existierenden islamischen Dachverband in Deutschland dar – älter als DITIB und IGMG.
Steinmeier würdigte vorbildliche Integration der VIKZ-Mitglieder
Anders als diese pflegt der VIKZ ein betont dezentes Auftreten in der Öffentlichkeit. Stattdessen konzentriert sich der Verein auf die religiöse Bildung und betreibt bundesweit etwa 300 selbstständige Gemeinden und Bildungsvereine. Schwerpunkt ist vor allem die Koranrezitation. Als bislang einziger deutscher Islamverband bilden die Süleymancılar bereits seit den 1980er Jahren eigene Imame aus. Mitte der 1980er-Jahre soll die Gemeinschaft über mehr als 1.000 Gebäude für Korankurse in der Türkei und 215 Islamische Kulturzentren im Ausland verfügt haben.
Die Mitglieder des VIKZ gelten als gut integriert – anlässlich des 50-jährigen Bestandsjubiläums würdigten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Landesregierung von NRW im September 2023 die Arbeit des Verbandes (siehe Foto). Einen Monat später erklärte dieser in einer knappen Presseerklärung seinen Austritt aus dem Koordinationsrat der Muslime, dessen Gründungsmitglied er war. Der Verein hatte über die Jahrzehnte seines Bestehens hinweg stets seine Unabhängigkeit von ausländischen Einflüssen betont. Weltweit soll die Gemeinde mittlerweile über etwa zwei Millionen Mitglieder verfügen.
Namhafte Vertreter der Süleymancılar in der Türkei hatten Parlamentsmandate und ein Ministeramt inne
In der Türkei geriet die Bewegung nach dem Militärputsch 1980 wieder ins Visier des Staates. Im Jahr 1983 warf die Staatsanwaltschaft Antalya den Süleymancılar vor, ein „Kalifat“ gründen zu wollen und eine Regierung nach der Scharia anzustreben. Zudem hätten sie illegale Korankurse betrieben. Zwei Führungspersönlichkeiten wurden zu zwei Jahren Haft verurteilt, die Vereine verboten und das Vermögen beschlagnahmt. Allerdings wurde das Urteil ein Jahr später wieder aufgehoben.
In der Türkei traten einige Spitzenfunktionäre der Gemeinde auch politisch in Erscheinung. Der frühere Verbandssprecher Kemal Kaçar, Schwiegersohn von Bewegungsgründer Tunahan, saß in der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Er engagierte sich erst für eine Vorgängerpartei der MHP, dann für die moderat rechte Gerechtigkeitspartei (AP), von Mitte der 1990er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 für die Wohlfahrtspartei von Necmettin Erbakan.
Tunahans Enkel Arif Ahmet Denizolgun zog 1995 auf der Liste der Wohlfahrtspartei in die Große Nationalversammlung ein. Nach dem Putsch des 28. Februar blieb er als Unabhängiger Verkehrsminister des Kabinetts Mesut Yılmaz. Sein Bruder Mehmet Beyazıt Denizolgun engagierte sich anfänglich in der AKP – für diese saß er von 2002 bis 2007 auch im Parlament.
Fehde unter Tunahan-Enkeln spielt Erdoğan in die Hände
Nach dem Tod von Arif Ahmet Denizolgun wurde im Jahr 2016 Alihan Kuriş zum Sprecher der Süleymancılar ernannt. Süleyman Hilmi Tunahan war sein Großvater mütterlicherseits. In weiterer Folge schien ein tiefgreifender Konflikt zwischen der Gemeinde und der türkischen Regierung entstanden zu sein.
Bereits im Jahr 2019 ließ die AKP-geführte Stadtverwaltung von Kağıthane das der Gemeinde gehörende Studentenwohnheim Sadabat zerstören. Begründet wurde der Schritt mit der angeblich fehlenden Erdbebensicherheit.
Kuriş soll sich anschließend bei Wahlen für die Opposition ausgesprochen haben – zuletzt sollen die Süleymancılar 2014 in Istanbul Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu unterstützt haben. Mittlerweile berichtet die der Partei des Ultranationalisten Doğu Perinçek nahestehende Zeitung „Aydınlık“, dass sich unter den vier festgenommenen Gemeindemitgliedern auch ein „hochrangiger Justizbeamter“ befinde. Perinçek galt schon in der Vergangenheit als wichtiger Stichwortgeber der Regierung im Vorgehen gegen islamische Bewegungen.
Auch einen Kronzeugen hat Erdoğan bereits gewonnen: Der Tunahan-Enkel Fatih Süleyman Denizolgun hat nach der Übernahme durch Kuriş mit der Bewegung gebrochen. Heute nennt er sie „die größte Terrororganisation der Weltgeschichte“ und ein „Netzwerk des Verrats“.