„Erdoğan will die Hizmet-Bewegung delegitimieren, um sie zu zerschlagen“

Einige Tage vor den Parlamentswahlen stürmten Polizisten den Milliardenkonzern İpek Koza auf Grundlage einer umstrittenen Entscheidung des 5. Friedensstrafgerichts von Ankara und das Unternehmen wurde einem AKP-treuen Zwangsverwalter unterstellt. İpek Koza ist auch im Medienbereich tätig und gibt zwei Tageszeitungen heraus. Zwei Tage nach den Wahlen vom vergangenen Sonntag, welche die AKP haushoch für sich entscheiden konnte, wurden 44 Personen, darunter auch ehemalige Gouverneure, verhaftet.
In beiden Fällen ist der Vorwurf derselbe: Mitgliedschaft in der sogenannten Parallelstruktur. Gemeint ist damit die Hizmet-Bewegung um den türkischen Prediger Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA lebt. Die Bewegung ist neben der Türkei in mehr als 150 Ländern in den Bereichen Bildung und Dialog aktiv. Die Zahl der Sympathisanten beträgt weltweit mehrere Millionen. Als Ende 2013 Korruptionsvorwürfe gegen den damaligen Premierminister Erdoğan und sein Umfeld an die Öffentlichkeit drangen, wurde den ermittelnden Staatsanwälten und Polizisten vorgeworfen, der Parallelstruktur anzugehören und auf Anweisung Gülens zu handeln. Seitdem durchlebt die Bewegung unter der AKP-Regierung schwierige Zeiten.
Gegen Fethullah Gülen selbst laufen mehrere Verfahren. Ihm wird vorgeworfen, Gründer einer Terrororganisation zu sein und daran zu arbeiten den türkischen Staat zu unterwandern.
Der Nahost- und Türkei-Experte Prof. Dr. Udo Steinbach bewertet die Anschuldigungen als „Unfug“ und sieht im Vernichtungskrieg, den Erdoğan mit allen staatlichen Mitteln gegen Gülen führt, ein politisches Ziel des türkischen Staatspräsidenten: „Erdoğan will die Bewegung delegitimieren, um sie am Ende zu zerschlagen.“
Herr Steinbach, in den letzten Jahren läuft eine Debatte über die Hizmet-Bewegung, weil Erdoğan und die AKP sie bekämpft. Welche Zielsetzung verfolgt die Bewegung und was ist ihre Rolle in der türkischen Politik?
Steinbach: Die Hizmet-Bewegung füllt eine wichtige Lücke. Seit dem Beginn der Republik dominierte in der offiziellen Türkei ein antiislamischer Säkularismus. Dieser Säkularismus hat nie die Zustimmung der breiten sunnitischen Bevölkerungsgruppen gefunden. Frömmigkeit und ein gewisser sufischer Habitus, ein Volksglaube gleichsam dominieren in der Tradition des türkischen Islams. Das ist systematisch von den Kemalisten ausgeblendet worden, sodass sich hinter der Fassade der Säkularität eine verbreitete islamische Frömmigkeit gehalten hat.
Was hat das mit der Hizmet-Bewegung zu tun?
Steinbach: Die Hizmet-Bewegung hat sich in diesem Spannungsverhältnis nicht für die Einführung einer religiös legitimierten gesellschaftspolitischen Ordnung ausgesprochen; sie steht für eine islamische Frömmigkeit, die mit den Werten einer modernen Gesellschaft vereinbar ist. Gerade ihre Bildungsarbeit ist ein Zeichen dieser Bemühung.
Wieso ist das wichtig?
Steinbach: Das ist wichtig, weil der offizielle Islam, für den auch Erdoğan seht, diese Lücke zwischen der Moderne auf der einen und dem Islam, wie ihn die türkische Gesellschaft lebt, auf der anderen Seite nicht füllen kann. Das, was Sie momentan von Erdoğan sehen, ist im Grunde ein sunnitischer Islam, der versucht, selbstgerecht und autokratisch die Gesellschaft und den Staat zu übernehmen. Die Hizmet-Bewegung hingegen prägt den Islam in der Türkei in der Weise, dass der Bürger muslimisch sein kann aber zugleich den Weg in die Moderne findet. Und das geschieht, ohne dass sie ihrerseits den Staat zu übernehmen, die Institutionen zu unterminieren versucht, wie man es Ende der 90er Jahre Fethullah Gülen vorgeworfen hat.
Dieser alte Vorwurf wird ja in diesen Tagen wieder aufgefrischt. Gülen wird vorgeworfen, Gründer einer Terrororganisation zu sein mit dem Ziel gegen die gewählte Regierung zu putschen. Wie ernst sehen sie diese Anschuldigungen?
Steinbach: Das halte ich für Unfug. Erdoğan will die Bewegung delegitimieren, um sie am Ende zu zerschlagen.
Beide Akteure, AKP/Erdoğan und die Hizmet-Bewegung, sind ja im sunnitischen Lager beheimatet. Wieso ist es ihnen nicht gelungen, den Konflikt intern auszutragen?
Steinbach: Weil es grundlegende politische Differenzen gibt. Die Hizmet-Bewegung um Gülen ist eine Bewegung in der Gesellschaft, die eine lange Tradition hat, die bis in die osmanische Türkei zurückreicht. Erdoğan hat diese Bewegung zunächst zu seinem eigenen oder dem Nutzen seiner Partei ausgeschlachtet, daher die Allianz mit der Gülen-Bewegung, die man ab 2002 für einige Jahre eingegangen ist. Von einem bestimmten Punkt aber haben sie sich entzweit. Erdoğan will die Institutionen islamisieren und die Türkei in Richtung eines islamischen Staates lenken. Als das deutlich wurde, was spätestens mit den Wahlen von 2011 der Fall war, da sind die Dinge auseinandergegangen. Da stand die Gülen-Bewegung im Wege dieses Mannes, der versucht, die staatlichen Institutionen zu islamisieren. Damit steht Erdoğan in der Tradition sunnitischer Muslime, die es eben noch nicht verstanden haben, Herrschaft, Demokratie und Islam zu einer Synthese zu bringen. Erdoğan müssen wir in die gleiche Ecke stellen, wie den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mursi, seinen Bruder im Geist. Mursi, der aus der Bewegung der Muslimbruderschaft kommt, hat nach seiner Wahl 2012 versucht, den Staat zu übernehmen. Das ist das, was Erdoğan auch will.
Warum hat die Hizmet-Bewegung das nicht mitgemacht?
Steinbach: Weil sie von ihrer ganzen Tradition her nicht auf den Staat ausgerichtet ist, sondern auf die Gesellschaft und auf den Menschen. Die Hizmet-Bewegung ist eine sunnitische Bewegung, welche die Rolle des Laizismus – also die Trennung von Staat und Religion – in der Staatsordnung verstanden hat.