Bildung & Forschung Gesellschaft Politik

„Islam ist hier der Chef“: Streit um Lehrer-Outing an einer Grundschule

  • Juni 3, 2025
  • 5 min read
  • 183 Views
„Islam ist hier der Chef“: Streit um Lehrer-Outing an einer Grundschule

Ein Grundschullehrer aus Berlin meldet homophobe Anfeindungen durch Schüler – und gerät ins Zentrum einer bundesweiten Debatte. Innerhalb der Grünen eskaliert der Streit über die Deutung: Zwischen der Integrationsbeauftragten Lamya Kaddor und dem Menschenrechtler Volker Beck fliegen öffentlich die Fetzen

Innerhalb der Partei der Grünen ist ein Streit um die Deutung von Vorfällen an der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit ausgebrochen. Der dortige Lehrer Oziel Inácio-Stech befindet sich derzeit mit einem diagnostizierten posttraumatischen Belastungssyndrom (PTSD) im Krankenstand. Er hatte sich an die „Süddeutsche Zeitung“ gewandt und geklagt, mindestens eineinhalb Jahre lang von Schülern in homophober Weise gemobbt worden zu sein.

Der Lehrer berichtete, infolge seines Outings von Schülern wiederholt beleidigt worden zu sein. Diese hätten ihn darüber belehrt, dass er aufgrund seines Lebenswandels „in der Hölle landen“ werde und dass „der Islam hier der Chef“ sei. An der Grundschule verfügt die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler über einen sogenannten Migrationshintergrund.

Lamya Kaddor warnt vor Instrumentalisierung der Aussagen von Grundschülern

Die Situation an der Grundschule geriet nach dem am 19. Mai erschienenen Bericht schon bald zum Gegenstand bundesweiter Aufmerksamkeit. Während in einigen Medien fehlende Unterstützung für Lehrende aus der LGBTQ*-Community beklagt wurde, problematisierten andere vermeintliche Integrationsdefizite muslimischer Familien.

Die Islamwissenschaftlerin und Bundestagsabgeordnete der Grünen, Lamya Kaddor, übte auf X Kritik an der Richtung, in die die Debatte abdrifte. Vor allem nahm sie Anstoß daran, dass Grundschulkinder und deren Verhalten zum Politikum erhoben würden: „Es erschreckt mich zutiefst, wie die Aussage eines Grundschulkindes herangezogen wird, um festzustellen, dass angeblich nicht das Grundgesetz, sondern der Islam hier gelte. Diese Instrumentalisierung geht zu weit.“

Ihr Parteikollege Volker Beck sah sich dadurch vor den Kopf gestoßen. Er beschwerte sich über das „Schweigen der islamischen Verbände“ zu den Vorfällen, und dass Kaddor dieses weniger problematisch finde als den Schreibstil der „Süddeutschen“. Dies sei eine „falsche Priorität“, worüber er „enttäuscht“ sei.

Alhambra-Gesellschaft beklagt Tabuisierung von Homosexualität

Stellungnahmen zu der Situation sind auf den Seiten der führenden Islamverbände in Berlin tatsächlich nicht zu finden. Allerdings ist deren Medienarbeit generell nicht besonders intensiv. Mitteilungen zu tagespolitischen oder Alltagsereignissen werden selten veröffentlicht – und wenn, betreffen diese ihr eigentliches Tätigkeitsfeld. Eine jüngst publizierte Studie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zu den Predigtinhalten in Moscheen großer Islamverbände hat Vorwürfe an deren Adresse jedoch nicht erhärtet. So zeigten die untersuchten Freitagspredigten den Gläubigen, die teilweise bis 2005 zurückreichten, eine „konsequente Ablehnung von Extremen und Gewalt und eine Orientierung an der ‚Gemeinschaft der Mitte’‘ also der Mäßigung“.

Die Alhambra-Gesellschaft verwies auf X vor dem Hintergrund der Debatte auf einen Blogbeitrag, den sie bereits 2018 veröffentlicht hatte. In diesem wurde ein empathischer Umgang mit dem Thema gefordert und ein offenes Gespräch darüber: „Nicht schwule oder lesbische, nicht bi-, trans- oder intersexuelle Menschen sind ein Problem. Es ist ein Problem, dass wir als muslimische Gemeinschaft auf die obigen Fragen keine Antworten haben und dass wir trotzdem immer noch das offene Gespräch über diese Fragen scheuen und weiter so tun, als ob diese Menschen für uns nicht existieren. Darüber müssen wir endlich reden.“

Outing erfolgte wohl aus eigener Initiative

Kaddor antwortete Beck derweil in einem weiteren und längeren Beitrag. In diesem unterstrich sie, dass die Schule ein „komplexer Raum“ sei, in dem viele Faktoren zusammenspielten und die Identität vieler Kinder und Jugendlicher noch nicht ausgereift sei.

Die gesamte Schulgemeinschaft habe eine Verantwortung, Diskriminierung entgegenzuwirken und diese „strukturell anzugehen“. Es sei jedoch nicht angebracht, Queerfeindlichkeit zum exklusiven Problem muslimischer Schülerinnen und Schüler zu erklären. Diese Sichtweise „verkennt nicht nur die strukturelle Tiefe von Diskriminierung, sondern lenkt auch bequem von der eigenen Verantwortung ab“.

Queerfeindlichkeit, so Kaddor, sei weder ein Randphänomen noch ein „importierter Kulturkonflikt“, sondern in der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt. Es sei nicht angebracht, das Thema zum Anlass für weiteres Othering von Bevölkerungsgruppen zu nehmen: „Wer nun mit dem Finger nur auf eine bestimmte Gruppe zeigt, bedient nicht nur rassistische Narrative, sondern verhindert auch echte Lösungen.“

Bisherigen Erkenntnissen zufolge hatte der Lehrer sich von sich aus gegenüber den Schülern geoutet. Er habe seinen Ehemann in weiterer Folge zu einem Schulfest mitgebracht. Das Outing habe sich im Vorfeld der Corona-Krise vollzogen. Dies sei nach längerer Überlegung und auf Ermutigung von Kollegen und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erfolgt. Jedoch habe eine Schülerin das Outing offenbar als Grenzüberschreitung wahrgenommen und angekündigt, die Information innerhalb der gesamten Schulgemeinschaft zu verbreiten.

About Author

dtj-online