Politik
Katastrophale Zustände in Silvan: „Das ist keine Polizeioperation, das ist ein urbaner Krieg“
Türkische Sicherheitskräfte gehen in der südosttürkischen Stadt Silvan gegen die urbanen Strukturen der PKK vor, seit mittlerweile zehn Tagen herrscht eine Ausgangssperre in Teilen der Stadt. Die Zivilbevölkerung wird schwer in Mitleidenschaft gezogen.
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Aus der Stadt Silvan nahe Diyarbakır im Südosten der Türkei kommen in den letzten Tagen besorgniserregende Berichte, die eine katastrophale humanitäre Lage befürchten lassen. Seit zehn Tagen herrscht in den drei Stadtvierteln (mahalle) Tekel, Konak und Mescit eine Ausgangssperre, es ist die sechste innerhalb von vier Monaten. Elektrizität, Wasser und Internet wurden abgestellt, während die Armee und Sicherheitskräfte des türkischen Staates militärisch gegen die terroristische PKK vorgehen und dabei Berichten zufolge die Zivilbevölkerung schwer in Mitleidenschaft ziehen.
Mindestens seit gestern setzt die Armee auch Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Helikopter gegen die Stadt ein. Augenzeugenberichten zufolge sollen ganze Stadtteile mit Artillerie beschossen werden. Genaue und verlässliche Opferzahlen gibt es bisher nicht. Auf Seiten der Sicherheitskräfte gab es mindestens zwei Tote, einen Leutnant der Armee und einen Polizisten, sowie mehrere Verletzte. Auch sollen mittlerweile mindestens fünf PKK-Angehörige gestorben sein. Die PKK-nahe Nachrichtenagentur Fırat hat gemeldet, dass Spezialeinheiten der Polizei einen 5 Jahre alten Jungen namens Abdullah Güney erschossen haben sollen. Die Nachrichtenagentur DİHA meldete das ebenfalls.
Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte
Ziel der Operation ist es, die urbanen Strukturen der PKK in der Region zu zerschlagen und aufgeschüttete Barrikaden sowie Schützengräben in der Stadt ausfindig zu machen und zu zerstören. Im Rahmen der eskalierenden Gewalt der letzten Monate hat die PKK den Krieg aus den Bergen in die Städte getragen. Ganze Landkreise im Südosten der Türkei, die von der pro-kurdischen Partei BDP regiert werden, hatten bereits diesen Sommer ihre Selbstverwaltung erklärt, wogegen der Staat mit militärischen Mitteln vorgegangen ist. In vielen Städten im Südosten der Türkei kam es zu Kämpfen zwischen PKK-Anhängern und türkischen Sicherheitskräften, bei denen Barrikaden und Gräben ausgehoben wurden, um als Gefechtspositionen und Wegsperren gegen die Sicherheitskräfte zu dienen.
Die regionale Bevölkerung und Journalisten werfen den türkischen Sicherheitskräften jedoch vor, dabei unverhältnismäßig hart vorzugehen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, sie teilweise sogar vorsätzlich anzugreifen und Gefahren auszusetzen. Selbst in der Hürriyet wird das Vorgehen des Militärs kritisiert. So schrieb ihr Kolumnist Özgür Korkmaz heute: „Das Ausheben von Schützengräben, das normalerweise mit dem Errichten von Barrikaden einhergeht, hinter denen bewaffnete Militante stehen, oder Autonomieerklärungen und de facto Selbstverwaltung können in einem souveränen Staat nicht akzeptiert werden. Was jedoch ebenfalls inakzeptabel ist, ist die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung während der anhaltenden Kämpfe.“
Die Ausgangssperre führt zu einer teilweise katastrophalen humanitären Lage in den betroffenen Gebieten, die sich mit jedem Tag noch verschlimmert, da weder Wasser, noch Nahrungsmittel die Wohngebiete erreichen. Viele Einwohner reißen deshalb Wände ihrer eigenen Häuser ein, um wenigstens mit ihren Nachbarn in Kontakt treten und die nötigsten Gebrauchsgüter und Nahrungsmittel tauschen zu können.
Polizei greift HDP-Delegation an
Mehrere Abgeordnete der pro-kurdischen HDP wollten sich ein Bild von der Lage machen, darunter die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ. Ihre Delegation, der auch die HDP-Abgeordneten Ertuğrul Kürkçü und İdris Baluken angehören, traf heute in Silvan ein und wurde bereits kurz danach von der Polizei angegriffen, als sie die betroffenen Viertel betreten wollte. Ertuğrul Kürkçü beschreibt den Angriff der Polizei folgendermaßen: „Am Eingang zum Viertel schnitt uns die Polizei mit einem TOMA (gepanzertes Wasserwerferfahrzeug der Polizei, Anm. d. Red.) den Weg ab. Ohne sich auf ein Gespräch einzulassen und ohne Vorwarnung begannen sie, mit dem Wasserwerfer auf uns zu schießen und Tränengasgranaten abzufeuern. Dann haben sie uns mit Schilden bewaffnet durch physische Gewalt auseinandergetrieben.“ Daraufhin hätte ein Teil der Delegation Schutz im Rathaus von Silvan gesucht, ein anderer im Innenhof einer Moschee.
Selahattin Demirtaş, der andere Ko-Vorsitzende der HDP, fand klare Worte für die Zustände in Silvan: „Das ist keine Polizeioperation, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Das ist ein urbaner Krieg, inklusive der Armee.“ Er und mehrere andere HDP-Politiker forderten, dass internationalen Beobachtern, allen voran der UN, Zutritt zur betroffenen Region gewährt wird.
In regierungsnahen Medien wird indessen kaum über die Zustände in Silvan berichtet, lediglich die Toten und Verletzten der Sicherheitskräfte finden Erwähnung sowie die Opfer der PKK. Unterdessen hat Innenminister Selami Altınok heute eine Erklärung abgegeben, in der er ankündigte, dass die Operation fortgeführt wird: „Unser Präsident, unser Premierminister und unsere Regierung sprechen sich für unseren Kampf gegen den Terror aus. Ich tue das auch. Er wird bis zum Ende fortgeführt werden. So lange es in der Republik Türkei, in unserem Staat, bewaffnete Subjekte gibt, werden wir diesen Kampf fortsetzen. Es handelt sich dabei um eine sorgsam geplante Operation. Sie wird so lange fortgeführt werden, bis diese drei Viertel von terroristischen Elementen gesäubert worden sind.“