Oberster türkischer Richter: „Individualbeschwerde ist Herzstück des Rechtsstaats“

In der Türkei hat der Präsident des Verfassungsgerichts, Kadir Özkaya, die Durchsetzungsstärke des Rechtsstaats gelobt. Er verwies auf mehr als 81.000 Fälle, in denen das Höchstgericht seit 2012 türkischen Behörden oder Gerichten Verstöße gegen die Grundrechte attestiert habe. Özkaya erzählt jedoch nur einen Teil der Wahrheit.
In der Türkei ist die Justiz willkürlicher geworden. Die Vielzahl politisch motivierter Verfahren schwächt die Verfahrensrechte der Bürger und überfordert die Richter selbst. Dies lässt sich zwischen den Zeilen aus einer Rede herauslesen, die der Präsident des Verfassungsgerichts, Kadir Özkaya, jüngst gehalten hatte.
In den vergangenen 13 Jahren hat das türkische Verfassungsgericht in 81.481 Entscheidungen einen Verstoß vonseiten der Verwaltung oder Justiz festgestellt. Darin enthalten sind auch Verletzungen des Rechts auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist.
Die Türkei und das System der Europäischen Menschenrechtskonvention
Özkaya sprach in der Vorwoche bei einer Veranstaltung mit international angesehenen Juristen, darunter Saadet Yüksel und weiteren Richtern am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Seine Rede galt dem Thema „Aktuelle Fragen in der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verfassungsgerichts im Rahmen des Rechts auf Eigentum und ein faires Verfahren“.
Der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts erinnerte an die Stationen der Einbindung der Türkei in das System des EGMR. Im Jahr 1954 trat das Land der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei. Seit 1987 gibt es das Recht auf Individualbeschwerde vor dem EGMR, seit 1990 verpflichtete sich die Türkei, die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen anzuerkennen. Im Jahr 2004 wurde sogar die Verfassung geändert, um den Vorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention zu institutionalisieren.
Die Möglichkeit einer Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht gibt es in der Türkei seit 2012, und Özkaya betonte in seiner Rede insbesondere deren Bedeutung. Sie sei zentral für den Schutz der Grundrechte und Freiheiten und stärke den Rechtsstaat. Die individuelle Anwendung, so der Höchstrichter, „dient der Rechtssuche des Einzelnen ebenso wie der synchronisierten Entwicklung unserer Rechtsordnung“.
Zuletzt 70.000 Individualbeschwerden innerhalb eines Jahres
Özkaya erklärte, die Individualbeschwerde ermögliche einen schnelleren und effektiveren Rechtsschutz für den Einzelnen. Zugleich trage sie dazu bei, dass „die Türkei ihre internationalen Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte stärker erfüllt“. Der individuelle Zugang zur Beschwerde wegen der Verletzung von Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention mache die Verfassungsprinzipien „sichtbarer und funktionsfähiger“.
Die individuelle Anwendung sei „zu einem dynamischen und transformativen Mechanismus geworden, der es der Verfassung ermöglicht, ein lebendiger Text zu sein“. Bis Ende 2024 seien 700.000 Anträge dieser Art eingereicht worden. Zuletzt seien es 70.000 innerhalb von nur einem Jahr gewesen. Etwa 67.000 hatte man zuletzt im Jahr bearbeitet, wobei in 5.551 Fällen Verstöße festgestellt worden seien. Dazu gebe es 75 Verfahren, in denen nach Feststellung eines Verstoßes die Entscheidungen noch nicht umgesetzt sei.
Die Zahl der Beschwerden zeige, „wie wichtig der individuelle Rechtsbehelf für den Schutz der Grundrechte und -freiheiten unserer Bürgerinnen und Bürger ist“. Das Verfassungsgericht setze das System „mit großer Entschlossenheit und Erfolg fort“.
Verfassungsgericht sieht sich als Wahrer der Individualrechte – und bleibt hinter dem Anspruch zurück
In weiterer Folge sprach der oberste Verfassungsrichter von Menschenrechten im internationalen System – und von Kriegen, Migrationsbewegungen und Ungleichheit. Die Menschheit müsse „mit einem gemeinsamen Gewissen gegen all diese Ereignisse aufschreien und mit einem gemeinsamen Gewissen handeln“, erklärte Özkaya.
Bezeichnend war dieser Themenwechsel insofern, als sich das Verfassungsgericht insbesondere in heiklen Fragen der türkischen Rechtspflege selten als Wahrer individueller Rechte gerierte. So konnten beispielsweise die Säuberungsaktionen und willkürlichen Anklagen und Verurteilungen mutmaßlicher Angehöriger der Gülen-Bewegung unter seinen Augen geschehen.
Offiziellen Zahlen zufolge fanden seit 2016 etwa 700.000 Gerichtsverfahren gegen tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger in der Türkei statt. Bis Mitte 2023 gab es dabei 122.632 Verurteilungen, in mehr als 1.300 davon zu lebenslangen Haftstrafen. Gegen fast 68.000 Personen dauern Ermittlungen noch an.
EGMR hat Türkei mehrfach verurteilt – Ankara ignoriert seine Erkenntnisse
Es gab rund 125.000 Entlassungen von Beamten und mehr als 230.000 Pässe wurden entzogen. Zahlreiche Schulen, Vereine und Medienhäuser wurden geschlossen, rund 270 Stipendien gestrichen und tausende Institutionen dauerhaft aufgelöst. In vielen Fällen reichte es aus, die ByLock-Messenger-App auf dem Handy installiert oder bei der Bank Asya ein Konto geführt zu haben, um ins Visier der Justiz zu geraten.
Der EGMR hat in zahlreichen Fällen eine Verletzung der Rechte nach der EMRK durch die türkische Regierung festgestellt. Dabei sprach der Gerichtshof den Beschwerdeführern auch Entschädigungen zu. Die Türkei setzt die Urteile jedoch im Regelfall bis heute nicht um.