Risale-i-Nur für Gefangene verboten: Gerät auch Nurculuk-Bewegung in Erdoğans Visier?

Die türkische Regierung geht zunehmend gegen unabhängige religiöse Bewegungen im Land vor. Nun scheint auch die traditionsreiche Nurculuk-Bewegung, die auf den Islamgelehrten Said Nursi zurückgeht, ins Fadenkreuz geraten zu sein. Ein Vorfall im Hochsicherheitsgefängnis Silivri lässt aufhorchen – und weckt Erinnerungen an das harte Vorgehen gegen die Gülen-Bewegung.
Hat die türkische Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan die nächste unabhängige islamische Bewegung ins Visier genommen? Wie die der Gülen-Bewegung nahestehende Nachrichtenseite „TR724“ mitteilt, hat die Administration des Silivri-Gefängnisses die Übergabe einer Lektüresendung an dort Inhaftierte verweigert. Es handelte sich um eine Gesamtausgabe der „Risale-i-Nur“.
Bei diesen handelt es sich um religiöse Schriften, die der bekannte Islamgelehrte Said Nursi ab 1927 in seiner Verbannung in ein Dorf in der Provinz Isparta verfasst oder diktiert hatte. Ein Teil davon umfasst Korankommentare, dazu kommen Reflexionen über eine Vielzahl von Fragen zu Religion und Zeitgeschehen. Das Werk beinhaltet 130 Schriften, die in 14 Bänden und auf über 6.000 Seiten zusammengefasst sind. Der Gelehrte und seine Texte haben weltweit Millionen Menschen inspiriert.
Chefredakteur von Nurcu-Zeitung fast zwei Monate in Haft
Absender war der Verlag der Publikation „Yeni Asya“. Bei dieser handelt es sich um ein seit 1970 erscheinendes Medium der Nurculuk-Bewegung, die sich auf Nursis Lehren beruft. Die Verantwortlichen des Hochsicherheitsgefängnisses Nr. 8 im Silivri-Komplex schickten die Sendung zurück an den Absender. Dabei berief man sich – ohne nähere Ausführungen – auf „Gefängnisregularien“. Spezielle Sicherheitsbedenken wurden nicht genannt.
Kazım Güleçyüz, der frühere Chefredakteur von „Yeni Asya“, nannte die Rücksendung ein „neues Beispiel von Willkür“. In jenem Teil des Silivri-Hochsicherheitsgefängnisses, für den die Sendung bestimmt war, sitzen kaum tatsächlich gefährliche Straftäter. Vielmehr handelt es sich um politische Gefangene, viele von ihnen aus der Gülen-Bewegung.
Vieles spricht zudem dafür, dass der Vorfall mit seiner eigenen Inhaftierung zusammenhängt. Güleçyüz saß 57 Tage lang in Untersuchungshaft wegen vermeintlicher „Terrorpropaganda“. Anlass dafür war, dass er einen differenzierten Nachruf auf den am 20. Oktober 2024 verstorbenen Fethullah Gülen verfasst und sein „Beileid an die Gemeinde“ ausgesprochen hatte. Gülen galt in der Türkei seit den Korruptionsermittlungen in Regierungskrisen im Dezember 2013 als Staatsfeind. Die von ihm inspirierte Bewegung ist bis heute breiter Verfolgung ausgesetzt. Auf Grundlage weitestgehend unbewiesener Anschuldigungen wird sie auch einer Verwicklung in den Putschversuch vom 15. Juli 2016 beschuldigt.
Neutrale Position zwischen AKP und Gülen-Bewegung
Gülen war ebenfalls ein indirekter Schüler Said Nursis. Zwar kannten sich beide nicht persönlich, Gülen kam jedoch durch den bekannten Sufi-Lehrer Muhammed Lutfi Efendi mit dessen Lehren in Verbindung. In besonderer Weise inspirierte ihn dabei die Reinterpretation des Korn im Lichte moderner Wissenschaften, die Nursi ein zentrales Anliegen war. Aus dieser Tradition leitete Gülen auch sein Bekenntnis zur Demokratie und zur Synthese von Vernunft und Offenbarung ab.
Die Nurculuk-Bewegung und „Yeni Asya“ waren jedoch nicht der Gülen-Bewegung zuzurechnen. Beiden war neben dem Bekenntnis zur Demokratie und einer lebendigen Koranexegese auch die Idee des interkulturellen und interreligiösen Dialogs wichtig. Sowohl die Nurculuk- als auch die Gülen-Bewegung wollten mit Andersgläubigen gegen Marxismus und Atheismus zusammenwirken. Die Nurcus fassten dabei insbesondere den Dialog mit Christen ins Auge. Gülen hingegen wollte die Dialogidee auch auf Juden und andere Weltreligionen ausgedehnt wissen – was die Nurcus ablehnten.
Nurculuk nicht die erste unabhängige Islam-Bewegung im Fadenkreuz der AKP
Gleichzeitig wandte sich die Nur-Bewegung auch gegen eine politische Instrumentalisierung oder staatliche Vereinnahmung der Religion. Das brachte sie in einen Konflikt mit der Milli-Görüş-Bewegung von Necmettin Erbakan und später auch der AKP-Regierung unter Erdoğan. Bei Wahlen rief „Yeni Asya“ meist zur Wahl kleinerer Mitte-Rechts-Parteien auf. Innerhalb der Gemeinde wählten dennoch die meisten Stimmberechtigten die AKP.
Als der Konflikt zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung eskalierte, versuchte man, nicht involviert zu werden. Man kritisierte beide Seiten – was auch innerhalb der Nurculuk-Gemeinschaft zu Brüchen beitrug. Teile der Bewegung standen zu Erdoğan, der fallweise in Reden oberflächliche Referenzen an Nursi einbaute.
In den vergangenen Jahren geriet nicht nur die Gülen-Bewegung ins Fadenkreuz. Möglicherweise beeinflusst durch Berater aus dem Umfeld des etatistischen Ideologen Doğu Perinçek, ging die Regierung in Ankara zuletzt gegen mehrere religiöse Bestrebungen vor, die sich nicht in die Agenda des politischen Islam der AKP und der staatlichen Religionsbehörde Diyanet einfügten. Die Repressionen richteten sich gegen moderate religiöse Bewegungen ebenso wie gegen radikale oder schlicht dubiose.
Es geht nicht um ideologische Positionen
Im Jahr 2018 wurde der Führer der Furkan-Bewegung, Alparslan Kuytul, inhaftiert. Seine Bewegung, die auch der deutsche Verfassungsschutz als extremistisch einstuft, wurde verboten. Kuytul wurden neben Führung einer ungesetzlichen Vereinigung auch Betrug und Urkundenfälschung vorgeworfen. Im selben Jahr zerschlug die türkische Regierung auch die obskure Vereinigung des TV-Predigers Adnan Oktar. Dabei wurden auch Vorwürfe systematischen sexuellen Missbrauchs erhoben – wohl zurecht.
Vor zwei Jahren hielt die Türkei mehr als 100 Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde davon ab, die Grenze zu Bulgarien zu überqueren. Dort wollten die Gläubigen Asyl beantragen. Die Gemeinde ist in der Türkei wenig bedeutend, in den sunnitischen Gemeinschaften wird sie wegen des Vorwurfs von Sonderlehren abgelehnt. Die Aktion machte in weiterer Folge deutlich, dass die Regierung in Ankara bereit ist, ihre Anhänger auch in Länder abzuschieben, in denen ihnen Folter oder die Todesstrafe droht.
Zuletzt fiel auch die von der sufistischen Naqshbandi-Bewegung inspirierte Vereinigung der sogenannten Süleymancılar bei Erdoğan in Ungnade. Der Staatschef bezeichnete sie als „dunkle Organisation“ und „Krake“. Wie bereits zuvor der Gülen-Bewegung warf er ihnen die „Unterwanderung des Staates“ vor. In Deutschland ist die Bewegung in Form des Verbandes der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) seit 1973 vertreten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte angesichts ihres 50-jährigen Bestandsjubiläums persönlich ihre Beiträge zur Integration gewürdigt.