Straßburg Endstation für Türkei: Demirhan-Entscheidung jetzt rechtskräftig
Mit dem endgültigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in 239 Fällen ist ein Meilenstein im Kampf gegen Massenverurteilungen nach dem Putschversuch von 2016 erreicht. Jetzt beginnt die Umsetzung – und damit eine Bewährungsprobe für die türkische Justiz.
Das Spiel ist aus für die türkische Regierung in Sachen „Demirhan u. a. gegen Türkei“. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat in ihrer Entscheidung vom 3. November die Beschwerde aus Ankara zurückgewiesen. Damit wird das Urteil vom 22. Juli rechtskräftig, das der Türkei eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und des Grundsatzes der Gesetzlichkeit attestierte.
Noch weitere 8.000 ähnliche Fälle aus der Türkei offen
Das nun rechtskräftige Urteil betrifft zunächst die 239 Beschwerdeführer. Die Signalwirkung erstreckt sich jedoch auch auf tausende ähnliche Fälle, in denen die türkische Justiz vermeintliche oder tatsächliche Angehörige der Gülen-Bewegung anklagte und verurteilte.
Das Urteil im Fall Demirhan knüpft an die 2023 gefällte Entscheidung Yalçınkaya/Türkei an. Es geht anders als im vor zwei Jahren beendeten Verfahren aber nicht nur um eine einzelne Person, sondern eine große Gruppe von Verurteilten. Es wird deutlich, dass die bisherige Praxis an Anklagen und Beweisführungen in Verfahren rund um „FETÖ“ – so die regierungsoffizielle Bezeichnung des Gülen-Netzwerks – systematisch gegen Grundrechte verstoße.
Die Regierung in Ankara beharrte auf einer Überprüfung – und scheiterte damit. Nun ist die Entscheidung des EGMR rechtsgültig und die Türkei wäre als Mitglied des Europarats verpflichtet, die Verfahren gegen 239 Betroffene in 52 Provinzen wiederaufzunehmen. Offen sind noch 8.000 weitere und sachlich ähnlich gelagerte Fälle.
Alltägliche Handlungen sind keine zulässigen Beweise für Terrorismus
Der EGMR stellte einmal mehr klar: Alltägliche Handlungen taugen per definitionem nicht als Beweis für eine „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ – und dürfen so nicht gewertet werden. Das betrifft unter anderem die frühere Nutzung von Messenger-Apps wie ByLock oder das Führen von Konten bei der mittlerweile zerschlagenen Bank Asya.
Aber auch frühere Verbindungen zu bestimmten Schulen oder Vereinen können nicht als Tathandlungen oder Beweise für einen Terrorismusvorwurf gewertet werden. Alles andere würde gegen die Prinzipien der Gesetzlichkeit, Vorhersehbarkeit und des fairen Verfahrens verstoßen.
Nun steht die Türkei vor einem Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Justiz. Die Gerichte müssten sich nun an den rechtskräftigen Entscheidungen des EGMR orientieren. Sie sind angehalten, ihre bisherigen Urteile neu zu bewerten. Alles andere wäre ein Bruch mit europäischen Standards.
Bis dato ignoriert die Türkei die EGMR-Rechtsprechung
Anwaltsverbände und Menschenrechtsorganisationen sind aufgerufen, über die rechtliche Verbindlichkeit der EGMR-Entscheidungen aufzuklären und deren Umsetzung einzufordern. Ob es tatsächlich dazu kommen wird, ist ungewiss. Bis dato zieht es die Türkei vor, die Rechtsprechung des EGMR zu ignorieren.
Allerdings droht eine weitere Missachtung der europäischen Rechtsprechung den Annäherungsprozess Ankaras an Europa zu belasten – in einer Zeit, da Länder wie Deutschland versuchen, der Türkei eine goldene Brücke zu bauen. Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Johann Wadephul haben erst jüngst deutlich gemacht, die Türkei an der Seite Europas zu sehen.



