Trotz staatlicher Prämien: Rekordtief bei Geburtenrate in der Türkei

Die Geburtenrate in der Türkei ist 2024 auf ein historisches Tief gesunken – weit unter dem Bestandserhaltungsniveau von 2,1. Hohe Lebenshaltungskosten, wachsende Unsicherheit und ein Wertewandel hemmen die Familiengründung. Während die Regierung finanzielle Anreize bietet, bezweifeln Experten die Wirksamkeit ohne tiefgreifende Reformen.
Die Fertilitätsrate in der Türkei ist 2024 auf ein Rekordtief von 1,48 Kindern pro Frau in gebärfähigem Alter zurückgefallen. Dies geht aus Zahlen des Türkischen Statistikinstituts (TÜIK) hervor. Die Zahl der Lebendgeburten belief sich im Vorjahr nur noch auf 937.559. Als erforderliche Fertilitätsrate zum Erhalt der Bevölkerungszahl im Land gilt 2,1.
Noch im Jahr 2001 hatte der entsprechende Wert in der Türkei bei 2,38 gelegen, in den 1980er Jahren bei etwa 4,0. Bereits in den 2000er Jahren hatte es einen Einbruch bei der Fertilitätsrate gegeben. Diese hatte sich aber immerhin noch um das erforderliche Level für den Erhalt der Bevölkerungszahl eingependelt. Mitte der 2010er Jahre lag sie sogar noch darüber. Allerdings brach sie seit 2017 drastisch ein – von 2,08 innerhalb weniger Jahre auf den nunmehrigen Wert.
Ökonomische Unsicherheit als Hauptursache?
Das durchschnittliche Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen, ist seit 2001 ebenfalls deutlich angestiegen – von 26,7 auf 29,3. Das Wirtschaftsforschungsinstitut TEPAV verweist auf verschobene Heirat, Prioritätensetzung zugunsten der Karriere und hohe Kosten der Kindererziehung als relevante Faktoren hin.
In einem aktuellen Bericht von TEPAV ist die Rede von zahlreichen ökonomischen Faktoren, die zu dem Absturz der Fertilitätsrate beigetragen hätten. Diese reichten von der anhaltend hohen Inflation über steigende Wohnkosten und Arbeitsplatzunsicherheit bis hin zu sinkenden Realeinkommen.
In einer TÜIK-Umfrage zur Lebenszufriedenheit 2023 gaben 45,7 Prozent der Befragten an, dass sich ihre persönliche Lebenssituation in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert habe. Nur 23,9 Prozent erklärten, dass diese besser geworden sei. Ebenfalls nur 23,9 Prozent aller Befragten äußerte Optimismus mit Blick auf die wirtschaftliche Zukunft. Mehr als ein Drittel erwartet eine weitere Verschlechterung.
Erdoğan beklagt „Individualismus und Konsumismus“ als Hauptprobleme
Gerade unter den 25- bis 34-Jährigen, die bezüglich einer Familiengründung die größte Gruppe an Hoffnungsträgern wäre, sprachen viele davon, dass 2024 ihr Einkommen gesunken sei. Fast 39 Prozent mussten zudem auch noch neue Schulden aufnehmen.
Während des Internationalen Familienforums in Istanbul wies Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Behauptung zurück, wirtschaftliche Gründe seien der Hauptfaktor für den Rückgang der Geburtenzahl. Er macht einen kulturellen Verfall dafür verantwortlich. Das tatsächliche Problem sei das Aufkommen von „Individualismus und Konsumismus“. Immerhin, so Erdoğan, hätten Länder wie Malta, die deutlich höhere Durchschnittseinkommen aufwiesen, noch niedrigere Fertilitätsraten.
Mit 1,06 wies die Mittelmeerinsel die niedrigste Rate unter den EU-Staaten auf. Spanien (1,12) und Litauen (1,18) lagen nur unwesentlich höher. Am besten schnitten noch Bulgarien (1,81), Frankreich (1,66), Ungarn (1,55) und Rumänien (1,54) ab. In Bulgarien, Ungarn und Rumänien sind es vor allem die ländliche Bevölkerung und die stark vertretenen Roma-Communitys, die für eine etwas bessere Geburtenbilanz sorgen. In Frankreich sind es vor allem Einwandererfamilien aus Afrika, die durch höhere Geburtenzahlen dem Rückgang entgegenwirken. Kein einziges EU-Land erreichte auch nur annähernd eine Fertilitätsrate von 2,1.
Ländliche Bevölkerung und Minderheitencommunitys bessern Bilanz auf
In Bulgarien ist die Fertilitätsrate innerhalb der türkischen Minderheit höher als jene in der Türkei selbst. Und auch dort gibt es erhebliche Unterschiede. In den Städten liegt die Fertilitätsrate am niedrigsten. Verhältnismäßig höher ist die Zahl der Geburten pro Frau in ländlichen Gebieten, in den kurdisch geprägten Regionen und in Familien von Schutzsuchenden aus Syrien. Da mittlerweile bis zu 75 Prozent der Türken in den Städten leben, erweist sich die Urbanisierung als Treiber des Geburtenschwunds.
Die Zahl sehr junger Mütter zwischen 15 und 19 Jahren ging von 49 von 1.000 Frauen im Jahr 2001 auf zuletzt nur noch 10 zurück. Auch die Zeitspanne zwischen erstem und zweitem Kind steigt deutlich – wobei auch hier deutliche regionale Unterschiede bestehen – von 2,7 Jahren in Şanlıurfa bis zu 5,4 in Kırklareli.
Familienministerin Mahinur Göktaş warnte bereits im April 2024 vor langfristigen Problemen beim Militär, auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Pflege. Mittlerweile ist die Zahl der Über-60-Jährigen auch in der Türkei auf mehr als 10 Prozent der Bevölkerung gestiegen.
Womit Ankara mehr Geburten in der Türkei fördern will
Der Staat versucht, der – wie unter anderem Tesla-Chef Elon Musk es seit langem beklagt – weltweit zu beobachtenden Entwicklung durch einige Fördermaßnahmen entgegenzuwirken. Seit Anfang des Jahres gibt es einen steuerfreien monatlichen Zuschuss für Kinder über den Sozialfonds. Für das erste Kind sind es 5.000 Lira (ca. 111,55 Euro), für das zweite 1.500 (ca. 33,55 Euro) und jeweils wieder 5.000 TL für jedes weitere Kind.
Im Rahmen des „Jahres der Familie“ will man auch Prämien für Eheschließungen einführen – junge Paare können auf zinslose Darlehen von bis zu 150.000 TL hoffen. Zudem will man vonseiten der Regierung Kinderbetreuungsmöglichkeiten und flexible Arbeitszeitmodelle verbessern.
Politikanalystin Merve Dündar zweifelt an der Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Wirtschaftliche Unsicherheit und Geschlechterungleichheit würden dadurch nicht beseitigt. Zwar ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen im Jahr 2023 auf 35,8 Prozent gestiegen. Viele verließen trotzdem wieder den Arbeitsmarkt – wobei über 9 Millionen Frauen Hausarbeit als Grund für ihre Nichtteilnahme am Berufsleben angeben.