Türkischer Erdbeben-Experte Görür: „Wir müssen eines endlich akzeptieren“

Archivfoto: Sein Wort hat Gewicht: der prominente Erdbeben-Experte Naci Görür. Foto: Bilim Akademisi
Prof. Naci Görür ist in der Türkei ein gefragter Mann. Der Seismologe und Geologe kommt nicht nur, aber vor allem dann zu Wort, wenn die Erde bebt. Das passiert in der Türkei öfter, wie seit Mittwoch rund um die Millionenmetropole Istanbul, weshalb der Experte fordert, eine Tatsache einzusehen: dass das Land ein Erdbeben-Gebiet ist. Er forderte bereits vor über einem Jahr ein umfassendes System mit sechs Säulen, das Städte in der Türkei erdbebenresistenter machen soll.
Die Grundlage für den Aufbau einer erdbebenresistenten Stadt sei ein kompetentes Verwaltungssystem, das sowohl präventive als auch reaktive Maßnahmen umfasse. Insbesondere die Ausbildung von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im Umgang mit Erdbeben sowie die Schaffung von Notfallstrukturen innerhalb der städtischen Verwaltung seien von entscheidender Bedeutung. In diesem Zusammenhang betont Görür die Notwendigkeit von verpflichtenden Kursen und regelmäßigen Schulungen, die bereits zu Beginn der Amtszeit eines Bürgermeisters durchgeführt werden sollten.
Aufklärung über alle Altersgruppen hinweg
Neben der Verwaltung spiele auch die Bevölkerung eine zentrale Rolle. Eine gut informierte und vorbereitete Gesellschaft sei essenziell, um im Falle eines Erdbebens schnell und effizient zu reagieren. Laut den Experten müssen Aufklärung und Sensibilisierung über alle Altersgruppen hinweg vermittelt werden – von der frühen Kindheit bis hin zu Erwachsenenbildung und ständigen öffentlichen Informationskampagnen. Nur so könne eine Gesellschaft entwickelt werden, die im Ernstfall richtig handelt und zur Minimierung von Schäden beiträgt.
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Infrastruktur und Bauwerke sichern
Ein weiterer wesentlicher Baustein für erdbebenresistente Städte sei die Sicherstellung einer stabilen und funktionierenden Infrastruktur. Von Straßen und Brücken bis hin zu Wasser- und Abwassersystemen: Diese müssten nicht nur regelmäßig gewartet, sondern auch auf ihre Erdbebensicherheit hin überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Görür betont, dass die Infrastruktur ebenso wie der Gebäudebestand bei der Planung von Resilienzmaßnahmen berücksichtigt werden müssten. Ohne diese funktionalen Elemente sei eine Stadt auch bei stabilen Bauwerken nicht in der Lage, im Falle eines Erdbebens standhaft zu bleiben.
Ökologische Stabilität und Wirtschaft als Säulen der Resilienz
Abschließend sei es von großer Bedeutung, auch das Ökosystem und die Wirtschaft einer Stadt auf ein Erdbeben vorzubereiten. Umweltschäden und die Zerstörung von Produktionsstätten könnten zu langen Erholungsphasen führen, was vor allem für die lokale Wirtschaft verheerende Folgen haben könne. Die Sicherstellung der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit, auch nach einem Erdbeben, sei daher ein weiterer entscheidender Faktor, der nicht vernachlässigt werden dürfe.
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Wie es in seinem Beitrag auf „fikirturu.com“ heißt, müssten alle städtischen Komponenten in einem umfassenden Ansatz berücksichtigt werden, um eine Resilienz gegenüber Erdbeben zu gewährleisten – von der Verwaltung bis zur Infrastruktur. Nur so könne langfristig Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden.
Görür: „Brauchen ein Katastrophen-Ministerium“
In einem Fernsehprogramm kurz nach dem neulichen Beben in Istanbul kritisierte Görür zudem die sich wiederholenden Diskussionen rund um Erdbeben im Land. „Niemand soll spekulieren, wo und wann die Erde wie stark beben könnte. Das ist eine Schande. Wir müssen endlich eines akzeptieren: Dieses Land ist ein Erdbeben-Gebiet. Wir müssen ständig damit rechnen, dass wir in nur einer Nacht tausende Mitmenschen verlieren könnten, wo und wann auch immer.“ Um das Land auf die ständige Gefahr vorzubereiten, brauche es ein Katastrophen-Ministerium mit gut ausgebildeten Fachleuten und einem angemessenen Budget. Innerhalb der nächsten 20 Jahre könne es die Türkei schaffen, ihre Städte erdbebensicher zu machen.