Menschenrechte
Schwere Vorwürfe gegen die Türkei: UN-Gremium fordert Freilassung von angeblichem Putsch-Anführer
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Die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen fordert die sofortige Freilassung des ehemaligen türkischen Luftwaffenkommandeurs Akın Öztürk. Laut dem Gremium wurde seine Verhaftung nach dem Putschversuch von 2016 ohne rechtsstaatliches Verfahren und auf Basis gefälschter Beweise vollzogen. Die Entscheidung stellt das offizielle Narrativ der türkischen Regierung zum 15. Juli infrage.
Die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen (WGAD) hat in einer Entscheidung die sofortige Freilassung des früheren türkischen Luftwaffenkommandeurs Akın Öztürk gefordert. Bereits im August des Vorjahres hatte sich das Gremium mit seinem Fall befasst. Wie das oppositionelle türkische Medium „Politurco“ berichtet, wurde dessen Feststellung in der Vorwoche Öztürks Anwaltsteam zugestellt.
Der hochrangige Militär war am 16. Juli 2016 im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei festgenommen worden. Am 20. Juni 2019 verurteilte ihn ein Gericht zu lebenslanger Haft. Ihm wurden unter anderem 250-facher Mord, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die Verletzung der Verfassung vorgeworfen. Dem Narrativ der türkischen Regierung zufolge war Öztürk der führende Kopf des versuchten Staatsstreichs.
Vernichtende Bilanz zum Öztürk-Verfahren
Aufgrund ihrer Untersuchung ist die WGAD zu der Einschätzung gelangt, dass die Verhaftung von Öztürk willkürlich und ohne begründeten Verdacht erfolgt sei. Die Verurteilung basiere nicht auf einem rechtsstaatlichen Verfahren, hieß es weiter. Dieses sei ihm verweigert worden. Zudem seien ihn belastende Beweisergebnisse, die dem Urteil zugrunde gelegt wurden, durch Folter und Fälschung erlangt worden.
Das UN-Gremium forderte neben Öztürks Freilassung auch die Zahlung von Entschädigungen für seine Inhaftierung und Misshandlung. Darüber hinaus enthielt der Ausspruch der WGAD die Forderung nach der Durchführung einer umfassenden Untersuchung der Verantwortlichen für die Rechtsverletzungen zuungunsten des früheren Militärs.
Die auf 13 Seiten ausgeführte Entscheidung wurde im Anschluss an die 100. Sitzung des UN-Gremiums vom 26. bis 30. August 2024 erlassen. Sie benannte und dokumentierte mehrere Fälle von Folter und gefälschten Beweisen.
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Öztürk soll Putschisten zum Aufgeben überredet haben
Zum Zeitpunkt des Putsches war Akın Öztürk Mitglied des Obersten Militärrats (YAŞ). Den Dienst als Kommandeur der türkischen Luftwaffe leistete er von 2013 bis 2015. Er selbst sei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli mit seinem Enkelkind im Haus seiner Tochter gewesen, als er erstmals von dem Putschversuch erfahren habe. Es konnten nach Angaben der Verteidigung zu keiner Zeit belastbare Beweise erbracht werden, dass er irgendwelche Vorkenntnisse über die Putschpläne gehabt habe.
Hochrangige Militärs, darunter auch der spätere Generalstabschef Hulusi Akar, hätten ihn aufgefordert, sich am Luftwaffenstützpunkt Akıncı einzufinden. Dort habe er mit Putschisten verhandeln sollen, die sich dort verschanzt hätten. Eigenen Angaben zufolge habe er diese sogar zum Aufgeben überredet und zwei loyale Offiziere befreit, die sich in ihrer Gewalt befunden hätten.
Tags darauf habe man ihn ohne Haftbefehl festgenommen, körperlich schwer misshandelt und sogar mit Säure gefoltert. Öztürk verbrachte zehn Monate unter erschwerten Bedingungen in Untersuchungshaft. In den Wochen nach dem Putsch wurden insgesamt 2.839 Angehörige der türkischen Streitkräfte inhaftiert. Zahlreiche von ihnen leisteten Gefälligkeitsaussagen, um Folter oder schweren Misshandlungen zu entgehen. Das UN-Gremium sprach von schweren Fehlern in der Beweisaufnahme – von nichtöffentlichen Sitzungen bei der Vernehmung wichtiger Zeugen bis hin zur Vorverurteilung durch öffentliche Vorführungen von Beschuldigten in „Walks of Shame“.
Offizielles Narrativ der Türkei zum 15. Juli in seinen Grundfesten erschüttert
Politische Beobachter sehen in dem Ausspruch des UN-Gremiums einen schweren Schlag gegen das offizielle Narrativ der Regierung Erdoğan zum Putschversuch. Diesem zufolge sei Akın Öztürk ein Angehöriger der Gülen-Bewegung gewesen, die in der Türkei regierungsoffiziell als „Fethullahistische Terrororganisation“ (FETÖ) bezeichnet wird. Diese habe demnach den Putschversuch organisiert – einigen Repräsentanten der Führung in Ankara zufolge mit Unterstützung der CIA – und Öztürk sei einer der „Oberputschisten“ gewesen.
Tatsächlich hatte die militärische Karriere Öztürks bereits in den 1970er Jahren begonnen, als der Islamprediger Fethullah Gülen noch im Staatsdienst tätig war und das Hizmet-Netzwerk noch nicht existierte. Abgesehen davon hätte jeder Anschein der Zugehörigkeit zu einer religiösen Bewegung zum damaligen Zeitpunkt eine Entlassung aus militärischen Rängen zur Folge gehabt. Öztürk gab im Zuge seiner Verhaftung selbst an, die Gülen-Bewegung stets bekämpft zu haben.
Über die tatsächlichen Hintergründe des Putsches gibt es bis heute keine eindeutigen Erkenntnisse. Dass Hulusi Akar und einige der zuvor begnadigten Ergenekon-Generäle Öztürk als Sündenbock präsentierten, deutet darauf hin, dass auf diese Weise offene Rechnungen aus den Jahren davor beglichen werden sollten. Westliche Geheimdienste, darunter auch der BND, sehen keinen einzigen belastbaren Beweis dafür, dass es irgendeine Beteiligung oder gar Steuerung des Putschversuchs durch das Hizmet-Netzwerk gegeben haben könnte. „Die Türkei hat auf den verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bislang nicht gelungen“, erklärte BND-Präsident Bruno Kahl.
Die türkische Regierung hat noch keine offizielle Stellungnahme zur Entscheidung des UN-Gremiums abgegeben. Allerdings blieb auch die parteipolitische Opposition ruhig. Vieles deutet darauf hin, dass man dort davor zurückschreckt, sich durch Zweifel am Narrativ zum 15. Juli die Finger zu verbrennen.