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Asyl wegen Verfolgung als Gülen-Anhänger: Signalurteil aus Sigmaringen

  • Dezember 24, 2025
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Asyl wegen Verfolgung als Gülen-Anhänger: Signalurteil aus Sigmaringen

Mit einem bemerkenswert klaren Urteil hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen die Rechte türkischer Asylsuchender gestärkt, die wegen angeblicher Nähe zur Gülen-Bewegung verfolgt werden. Die Entscheidung stellt nicht nur einen negativen BAMF-Bescheid infrage, sondern zieht grundsätzliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der türkischen Justiz nach sich.

Mit einer weitreichenden Entscheidung in Asylsachen hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen die Rechte von Asylsuchenden gestärkt, die in der Türkei wegen ihres Engagements in der Gülen-Bewegung (Eigenbezeichnung „Hizmet“) verfolgt werden. In seiner Entscheidung vom 24. November hat das Gericht einen negativen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgehoben.

Das Gericht hat das BAMF angewiesen, einem 60-jährigen früheren Tierarzt und Hizmet-Anhänger Asyl zu gewähren. Die Begründung zur Entscheidung hat das Potenzial, auch für eine Vielzahl ähnlich gearteter Fälle Relevanz zu entfalten.

BAMF verweigerte Asyl wegen bereits verbüßter Haftstrafe

Das BAMF hatte dem bereits seit Jahrzehnten in der Bewegung aktiven Akademiker in erster Instanz Asyl verweigert. Zur Begründung führte die Behörde an, dass dieser bereits nach 2016 eine mehrjährige Haftstrafe aufgrund seines Engagements verbüßt hatte und ungehindert aus der Türkei ausreisen konnte.

Der Schutzsuchende war im Oktober 2023 auf direktem Wege nach Deutschland eingereist. Er war zuvor auf der Grundlage des Artikels 314 des türkischen Strafgesetzbuches wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung“ verurteilt worden. Als solche stuft die Regierung in Ankara die Gülen-Bewegung ein, die dort als „Fetullahistische Terrororganisation“ (FETÖ) bezeichnet wird.

Wie auch im Urteil dargelegt wird, wurden seit dem Putschversuch einer Gruppe von Militäroffizieren im Jahr 2016 mehr als 700.000 Menschen als Hizmet-Anhänger gerichtlich belangt. Obwohl die Karrieren der mutmaßlich beteiligten Offiziere zu einem Zeitpunkt begonnen hatten, als Gülen-Anhänger nicht als Kader geduldet worden wären, lastet die Erdoğan-Regierung den Putschversuch Hizmet an.

Verwaltungsgericht schildert Realität der Verfolgung von Hizmet-Anhängern

Was am Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen jedoch besonders bemerkenswert ist: Das Gericht hat offenbar jedes Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des türkischen Rechtssystem verloren. Über Seiten hinweg legt es in der Begründung dar, auf welcher zweifelhaften Grundlage Strafverfahren gegen vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Anhänger verfolgt werden.

Die Rede ist von den konstruierten Indizien wie der Verwendung der ByLock-Messenger-App, der Kontoführung bei der früheren Bank Asya oder Kinder an einer Gülen-Privatschule. Das VG Sigmaringen beruft sich unter anderem auf Urteile des EGMR, Erkenntnisse von Gerichten oder Länderinformationen des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Sogar das DTJ wird als Quelle zitiert.

Das Gericht schildert, wie willkürlich die türkische Regierung strafrechtlich relevante Vorwürfe konstruiert. Das „FETÖ-Meter“ kommt ebenso zur Sprache wie die Rolle von Denunzianten, deren bloße Behauptungen für die Einleitung von Verfahren ausreichen. Die Rede ist von Folter und unmenschlicher Behandlung bei Verhören, von der sozialen Stigmatisierung von Gülen-Anhängern, von der Bedrängung Familienangehöriger und vom Ignorieren von EGMR-Urteilen. Selbst die Strafhöhe hänge davon ab, ob der Richter moderat oder ein Hardliner sei. Im zweiteren Fall reicht selbst eine untergeordnete Rolle im Netzwerk für Höchststrafen.

BAMF muss Asyl gewähren – kein Verlass auf Rechtsstaatsnormen in der Türkei

Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Willkür und völligen Unberechenbarkeit geht das Verwaltungsgericht von einem weiterhin andauernden Verfolgungsrisiko für den Kläger aus. Es sei keinerlei Verlass darauf, dass die türkische Justiz diesen nach einer Rückkehr in die Türkei nicht erneut verfolgen würde.

Zwar gilt der Grundsatz „ne bis in idem“, wonach niemand zweimal für die gleiche Tat angeklagt werden könne. Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass sich die türkische Regierung unbedingt an diesen Verfassungsgrundsatz halten würde. Immerhin ignoriere sie auch EGMR-Urteile. Der 60-jährige Asylsuchende sei zudem Hizmet-Mitglied der ersten Stunde und stehe zudem offenbar längst wieder im Visier der türkischen Justiz. So habe das soziale Netzwerk X ihn darüber informiert, dass diese in der Türkei am 1. Oktober 2024 seinen Account sperren ließ.

Der Richter am VG Sigmaringen entschied, dass das BAMF den Status anerkennen und die Verfahrenskosten übernehmen muss. Ein Vertreter des BAMF war nicht bei der Anhörung. Es ist offen, ob Berufung eingelegt wird; hierfür gelten strenge Regeln. Das Urteil reiht sich in die deutsche Rechtsprechung ein, die türkischen Staatsangehörigen mit angeblichen Gülen-Verbindungen Schutz gewährt. Dabei stützen sich die Richter zunehmend auf Entscheidungen des EGMR zur politischen Verfolgung.

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