Politik
„Wir bekommen von AKP-Abgeordneten Unterlagen zu Korruptionsfällen zugespielt“
Der Generalsekretär der größten türkischen Oppositionspartei spricht in einem Interview über die Probleme der Türkei mit ihren Nachbarn, den Friedensprozess mit der PKK und die Korruption in der AKP.

Der Generalsekretär der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP), Gürsel Tekin, gilt als Architekt der Öffnungspolitik der Partei Richtung neuer Wählerschichten. In einem Interview mit der Tageszeitung Bugün hat er Fragen über aktuelle innen- und außenpolitische Themen beantwortet. Hier ein Auszug aus dem Interview.
Das Chaos im Nahen Osten hat nun auch die Türkei erreicht. Die dortigen Konflikte und der Friedensprozess mit den Kurden im Land sind nicht mehr voneinander zu trennen. Wie ist es dazu gekommen?
Um die Situation heute richtig zu bewerten, muss man weit in die Vergangenheit blicken. Diese Regierung hat ihren Weg mit der Illusion „Große Türkei“ und „Globale Türkei“ begonnen. Mit „globaler“ Türkei meinte sie, dass man nicht nur das eigene Land, sondern auch die Nachbarn regiert. Die AKP-Regierung hat mit diesem Ansatz den mehr oder minder vorhandenen inneren Frieden des Landes torpediert.
Das Chaos mit den Nachbarn fing für die Türkei mit der Wende in der Syrienpolitik an. Was hat die AKP falsch gemacht?
In der Syrienpolitik wurde auf konfessionelle Differenzen gesetzt. Das war falsch und hat den Zerfallsprozess beschleunigt. Auch unsere Kritik als CHP wurde aus der konfessionellen Brille bewertet. Den Assad-Gegnern hat man Waffen geliefert und sie logistisch unterstützt. Die Freie Syrische Armee war eine wahre Illusion.
Momentan hört man kaum was von ihr. Warum? Weil die Illusion jetzt einen anderen Namen trägt. Sie hat ihr Kennzeichen geändert: Aus FSA ist IS geworden.
Was haben Sie als CHP in Bezug auf Syrien unternommen?
Wir haben trotz allem eine Delegation nach Syrien geschickt und haben uns bemüht, die Angelegenheit friedlich zu lösen. Wir haben anschließend unsere Beobachtungen vor Ort dokumentiert und an das Außenministerium geschickt. Ich habe Zweifel, ob dieser Bericht überhaupt gelesen wurde.
Später fingen die Probleme mit Ägypten und dem Irak an.
Unabhängig davon ob es beabsichtigt war oder nicht, haben die Kämpfe in Syrien unsere Beziehungen zum Irak zerstört. Die Lage war ähnlich wie in Syrien: Die Regierung brachte die Oppositionellen in die Türkei, unterstützte sie logistisch und mischte sich in die innere Angelegenheiten des Landes ein. All das wurde uns mit Belegen vorgetragen. Wir haben auch einen Bericht über unsere Irakreise verfasst. In dem Bericht sind bemerkenswerte Informationen enthalten. Ein Teil dessen ist an die Öffentlichkeit gedrungen. Teile von dem Bericht sind so brisant, dass man sie der Öffentlichkeit nicht mitteilen kann.
Als die Resolutionen zum Irak und zu Syrien verabschiedet wurden, gab es eine erneute Diskussion über die gescheiterte Resolution vom 1. März 2003, bei der es auch um den Irak ging. Was hat sich seitdem verändert?
Was sagte unserer damaliger Vorsitzender Deniz Baykal? „Im Nahen Osten gibt es zwei wichtige Staaten, von denen der eine – der Irak – für das Sunnitentum und der andere – Syrien – für das Schiitentum steht. Wen man mit diesen beiden Grundpfeilern der Region herumspielt, wird man nicht nur Konflikte im Nahen Osten, sondern in der gesamten islamischen Welt verursachen.
Wenn der Resolutionsentwurf vom 1. März vom Parlament abgesegnet worden wäre, hätten wir dann all das, war wir in diesen Tagen erleben, auch schon damals erlebt?
Es wäre noch viel schlimmer gekommen.
Warum konnte man die heutigen Ereignisse nicht vorhersehen?
Weil sich die Regierung nicht allzu sehr mit außenpolitischen Themen beschäftigt hat. Ihr war es wichtiger, in den Kommunen die Geschäfte zu planen. Wenn sie sich intensiver mit dem Weltgeschehen beschäftigt hätten, wären sie heute nicht ein Teil des Problems. Wir hatten den Stand erreicht, wo sogar Personen, welche die Türkei verachteten, dem Land Respekt zollten. Wir erleben jetzt eine völlige Isolation und haben keinen einzigen Verbündeten mehr.
War es richtig, den Friedensprozess zu beginnen?
Ja es war richtig und notwendig, jedoch war die Art und Weise der politischen Führung falsch. Kılıçdaroğlu (CHP-Vorsitzender, Anm. d. Red.) ging zu Erdoğan mit dem Angebot, auch einen Beitrag zum Prozess zu leisten. Warum? Natürlich wegen des inneren Friedens. Falls es uns gelingt, den inneren Frieden zu sichern, kann die Türkei ein weltweit starkes und angesehenes Land werden. Sie haben sich sogar gegen unser Angebot, einen Beitrag zu leisten, gestellt. Der Prozess ist an einem Punkt angekommen, an dem die Regierung hilflos ganz auf die Unterstützung Öcalans angewiesen ist.
In diesem ganzen Chaos werden immer noch die Korruptionsvorwürfe diskutiert. Die Regierung sieht in den Anklagen vom 17. Dezember einen Putsch gegen sich selbst.
Ich habe bereits 2011 im Parlament einen Korruptions-Atlas für Istanbul vorgestellt und vorgeführt, wie eine Summe von 100 Milliarden Dollar gestohlen und an organisierte Banden zugeführt wird. Wir haben später dann aus den Telefongesprächen, die nach dem 17. Dezember an die Öffentlichkeit gedrungen sind, erfahren, wie die Grundstücksmafia öffentliches Eigentum unter sich aufteilt.
Gibt es denn in der AKP keinen einzigen Abgeordneten, den der ganze Filz stört?
Vor anderthalb Jahr hat ein Erdoğan-Vertrauter ihm einen ein Brief geschrieben und ihm sowohl den Namen Reza Zarrab mitgeteilt als auch geschildert, wie das ganze Schwarzgeldgeschäft organisiert ist.
Was wissen Sie noch über die Hintergründe?
In der AKP gibt es viele vernünftige Menschen. Viele Dokumente über Korruptionsfälle innerhalb der AKP haben wir von den Abgeordneten der Partei selbst bekommen. Dass ihr Gewissen nicht leidet, ist unmöglich. Ausschreibungen im Energiebereich, Ungereimtheiten im öffentlichen Wohnungsbau und beim Umwelt-und Städtebauministerium – in der AKP herrscht nach wie vor große Unruhe.
Es ist seit dem 17. Dezember die Rede von einer „Parallelstruktur“. Hat man Ihnen in den vergangenen 10 Monaten belastbare Beweise dazu vorgelegt?
Sollte es eine solche „Parallelstruktur“ geben und tatsächlich illegal das Privatleben von Regierungsmitgliedern ausspionieren, so stellen wir uns alle gemeinsam als Schutzschild gegen sie. Das haben wir auch in dieser Deutlichkeit der Regierung mitgeteilt. Wir haben jedoch weder Beweise noch Informationen über eine Parallelstruktur erhalten. Die AKP sitzt an allen Schaltstellen des Staates. Es wird massenweise Geld in Taschen transportiert. Ist es überhaupt möglich, dass die Behörden nichts von einer Parallelstruktur mitbekommen?