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Politik

Abstimmung über Abgeordneten-Immunität: Die CHP ist das Zünglein an der Waage

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Das türkische Parlament stimmt heute über die Aufhebung der Immunität von knapp einem Viertel seiner Abgeordneten ab. Politische Analysten beurteilen das als Schachzug Staatspräsident Erdoğans, um eine Zweidrittelmehrheit für die Regierungspartei AKP herzustellen, die er zur Einführung eines Präsidialsystems braucht.

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Seit 15 Uhr Ortszeit (14 Uhr MEZ) ist die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM) in Ankara zum Plenum zusammengetreten und soll heute über die Aufhebung der Immunität fast eines Viertels ihrer Abgeordneten abstimmen. Auf der Tagesordnung steht neben einem von der HDP eingereichten Antrag auf ein Misstrauensvotum gegen Wirtschaftsminister Mustafa Elitaş die erste Runde der Abstimmung über eine vorübergehende Verfassungsänderung. Durch sie soll die Immunität von 136 Abgeordneten, gegen die sogenannte Fezleke (polizeiliche Vorberichte, die dem Parlamentspräsidium übermittelt werden) vorliegen, aufgehoben werden, um so polizeiliche Ermittlungen gegen sie zu ermöglichen. Zwar gehören die betroffenen Politiker allen vier im Parlament vertretenen Parteien an, doch sind sich die meisten Beobachter einig, dass die Initiative vor allem gegen die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) gerichtet ist: Von ihren 59 Abgeordneten wären 50 betroffen. Ihnen wird Propaganda für eine Terrororganisation gemäß dem umstrittenen türkischen Antiterrorgesetz vorgeworfen.

Sollte die Verfassungsänderung in Kraft treten und die HDP-Abgeordneten verurteilt werden, droht der Fraktion der Verlust eines Großteils ihrer Abgeordnetenmandate. Da das türkische Wahlrecht nach dem Verlust eines Parlamentssitzes kein Nachrückverfahren vorsieht, könnte dies in letzter Konsequenz das faktische Ende der HDP-Fraktion in der Großen Nationalversammlung bedeuten. Damit wäre Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) auf dem Weg zu der Zweidrittelmehrheit, die sie für eine Verfassungsänderung braucht, ein gutes Stück weiter.

Die Abstimmung könnte knapp ausfallen. Damit die vorübergehende Verfassungsänderung durch das Parlament kommt, braucht die AKP nämlich Unterstützung. 367 Stimmen sind notwendig, um eine Verfassungsänderung zu verabschieden, 330, um sie als Referendum zur Abstimmung zu stellen. Die AKP hat 317 Abgeordnete (minus Parlamentspräsident İsmail Kahraman, der seines Amts wegen kein Stimmrecht hat) und kann sich der Unterstützung der 40 Abgeordneten der rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) sicher sein. Sie benötigt also noch die Stimmen von mindestens 11 der 133 Abgeordneten der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP). Die CHP hatte ihre prinzipielle Zustimmung zur Verfassungsänderung bereits signalisiert, jedoch ist ein neuer Konflikt um den Termin für die zweite Runde der Abstimmung entstanden. Die CHP besteht aus terminlichen Gründen auf den 23. Mai, während die Regierung den 20. Mai festgelegt hat. Sollte sich der 20. Mai als Abstimmungstag durchsetzen, so erwäge man, die zweite Abstimmungsrunde zu boykottieren oder nur eine geringe Anzahl Abgeordneter daran teilnehmen zu lassen, heißt es aus der CHP.

Doch auch aus der AKP-Fraktion selbst dringen Gerüchte nach außen, dass einige Abgeordnete aus Unzufriedenheit über das Vorgehen bei der Absetzung Ahmet Davutoğlus ihre Zustimmung verweigern könnten. Die einzig sichere Konstante scheint die Ablehnung der HDP zu sein. Im Wissen um die Gefahr, die für die Partei ausgeht, stemmt sie sich mit allen rhetorischen Mitteln gegen die Pläne der AKP. Bei dem Plan zur einer vorübergehenden Verfassungsänderung handele es sich um eine „Putsch-Agenda der regierenden Partei“, sagte die HDP-Politikerin Meral Danış Beştaş. Die Abgeordneten stünden nun vor der Wahl „zwischen Demokratie und Faschismus“, der Entwurf laufe auf eine „Selbstabschaffung des Parlaments“ hinaus.

Tatsächlich beurteilen Beobachter und politische Analysten wie Mustafa Akyol die Initiative zur Aufhebung der Immunität dieser Parlamentarier als möglichen Schachzug Erdoğans, um für die AKP die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erreichen, die sie zur Einführung des verlangten Präsidialsystems benötigt. Entweder könnte es zu Nachwahlen kommen, durch die die freigewordenen Parlamentssitze neu vergeben werden, oder es könnten gar Neuwahlen ausgerufen werden. Die Schwäche der Opposition böte dafür eine gute Gelegenheit: Angesichts des Konflikts im Südosten der Türkei erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die HDP an der 10%-Hürde scheitern könnte. Die MHP ist derweil mit sich selbst beschäftigt, der Konflikt um einen Sonderparteitag und die Versuche der parteiinternen Opposition, sich des Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli zu entledigen, binden ihre Kräfte. Bereits bei den Parlamentswahlen 2002 war sie an der Sperrklausel gescheitert. Sollte die Partei vor möglichen Neuwahlen keine innere Geschlossenheit herstellen können und sich weiter in aller Öffentlichkeit zerlegen, stünden ihre Chancen ebenfalls schlecht, ins Parlament einzuziehen. 2002 war die AKP mit 34% der Wählerstimmen nur knapp an der Zweidrittelmehrheit vorbeigeschrammt, da keine andere Partei außer der CHP die 10%-Hürde bezwingen konnte.