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Politik

Wird es eine Aufarbeitung der AKP-Ära geben?

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Auch die Herrschaft der AKP wird eines Tages zu Ende gehen. Und es ist davon auszugehen, dass auch die heute Unantastbaren dann Rechenschaft ablegen müssen. So war es in der Geschichte der Türkischen Republik schon immer. (Foto: cihan)

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Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan.
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MEINUNG Das türkische Parlament soll in den kommenden Tagen über ein sogenanntes „Lösungspaket“ entscheiden, welches sechs Punkte zur Lösung des Konfliktes mit der kurdischen PKK vorsieht. Aus irgendeinem Grund stellen die regierungsnahen Medien bei dessen Vorstellung jedoch nur ein kleines Detail in den Vordergrund, anstatt das ganze Vorhaben gründlich vorzustellen: nämlich die Immunität für Beamte. Angeblich erhalten Beamte, die während des Friedensprozesses im Auftrag der Regierung und mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft handeln, denselben Schutz, den Mitarbeiter des Nachrichtendienstes MIT nach Artikel 27 des dafür geschaffenen Gesetzes genießen.

Die Frage, die sich stellt, ist, wieso nicht das komplette Gesetzesspaket vorgestellt wird, sondern der mediale Fokus auf diesen Teilaspekt gelenkt wird, der nur wenige Menschen betrifft. Es ist die eine Sache, dass befugte Staatsbedienstete einen Immunitätsstatus erhalten, doch eine völlig andere, diesen Teilaspekt bis in die Schlagzeilen aufzublasen. Woran mag dies liegen? Gibt es etwa die Befürchtung, es könne in der Post-AKP-Ära eine politische Aufarbeitung des Gebarens der Vorgängerregierung geben?

Politische Aufarbeitung bedeutet, dass eine neue Regierung Straftaten, die unter der schützenden Hand einer Vorgängerregierung begangen und daher rechtlich nicht verfolgt wurden, aufdeckt und die Verantwortlichen hierfür zur Rechenschaft zieht. Hierbei schlägt die neue Regierung jedoch meist über die Stränge, sodass politische Aufarbeitung oftmals Formen politischer Rache annimmt.

Kein Schutz mehr, wenn der Stern zu sinken beginnt

Bislang hat ausnahmslos jede Regierung eine Phase der politischen Aufarbeitung vollzogen, insbesondere zu Beginn ihrer Regierungszeit. Das Yıldız-Gericht von Sultan Abdulhamid; die Militärgerichte der Jungtürken (İttihatçılar) nach dem Ersten Weltkrieg; das Gericht des Nemrud Mustafa Paşa, bei dem die Jungtürken verurteilt wurden; der Prozess über das Attentat von Izmir , welcher eine verspätete Liquidation von Jungtürken zur Zeiten der Republik war; die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse der Demokratischen Partei; die Yassıada-Prozesse nach dem Militärputsch 1960; die Prozesse während der Zeit des Militärrechts nach dem Militärputsch von 1980; die Parlamentskommissionen unter der ANAP-Regierung; der Prozess um die „verlorene Billion“ nach dem postmodernen Putsch 1997; die Ergenekon- und Balyoz-Prozesse unter der AKP…

Es gibt nahezu keine Ausnahmen. Jeder, der einmal groß und mächtig war, wurde, nachdem sein Stern gesunken war, verurteilt. Erinnern wir uns bloß an jene heutigen Gefängnisinsassen, die früher als unantastbar galten: Sobald einem das Zepter aus der Hand genommen wird, scheint es keinen Schutz mehr zu geben.

Man braucht kein Hellseher zu sein, um künftige Ereignisse abschätzen zu können. Auch in der Post-AKP-Ära wird es mit Sicherheit eine politische Aufarbeitung geben und sehr viele werden insbesondere für ihre Taten in den vergangenen sechs Monaten Rechenschaft ablegen müssen. Die derzeit durch staatliche Vereinnahmung der Justiz verhinderten Ermittlungen werden fortgesetzt und eine Reihe von Menschen wird gewiss verhaftet werden. Ein Blick in die jüngere Geschichte lässt im Grunde keine andere Schlussfolgerung zu: Geblendet von dem Glanz der Herrschaft fühlen sich Regierende unfehlbar und die eigenen Entscheidungen werden indisputabel – insbesondere dann, wenn die Herrschaft keiner funktionierenden Kontrolle unterliegt. Im Rausche der Macht werden Recht und Gesetz missachtet. Macht und Herrschaft sind wohl die verlockendsten Versuchungen auf Erden. Man gewöhnt sich zu schnell an sie und handelt so, als habe man sie ewig in der Hand, denn erst dann kann man sie so richtig genießen.

Der Verbündete von heute kann der Ankläger von morgen sein

In einem funktionierenden Rechtsstaat brauchen Beamte keine Immunität, egal wie sensibel ihr Arbeitsfeld sein mag. Handelt es dabei sich um einen „Friedensprozess“? Wenn Verhandlungen mit einer Terrororganisation nötig sind, damit der Staat seinen Bürgern die ihnen zustehende Rechte gewährt, dann verdeutlicht dies umso mehr die Dysfunktionalität eines Staates.

An der Spitze des Staates haben sich die alten Allianzen und Bündnisse aufgelöst und neue wurden geschlossen. Wer mit dem Bären in dieselbe Höhle geraten ist, sollte für keine Sekunde die Augen schließen. Sollte es künftig zu einer politischen Abrechnung kommen, so werden vielleicht sogar die heutigen Verbündeten des Ministerpräsidenten damit beginnen. Und sie werden ihm keinen Deut Gnade erweisen. Genauso werden die Unterdrückten von heute den an jenem Tag völlig allein stehenden Staatsmännern von Gestern nichts als Recht und Gerechtigkeit wünschen.