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Der Fall Sarıgül: Warum Kassetten in der Türkei nicht aus der Mode kommen

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Kassetten bestimmen in der Türkei oft noch politische Konstellationen. Der jüngste Fall betrifft Mustafa Sarıgül. Quelle: Shutterstock
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Einst waren Kassetten wichtige Speichermedien. Für viele Prominente und angehende Musiker war es der größte Erfolg, endlich eine eigene Kassette aufzunehmen. Doch heute sind Kassetten längst in Vergessenheit geraten. Doch in der Türkei spielen sie noch eine Rolle, allerdings in einem völlig anderen Kontext, wie der jüngste Fall um den Erzincan-Oberbürgermeister Mustafa Sarıgül wieder zeigt.

Vor einigen Tagen beherrschte ein Thema die türkischen Social-Media-Kanäle: skandalöse Aufnahmen, die Mustafa Sarıgül zeigen sollen, offenbar heimlich gefilmt. Die für Erwachsene bestimmten Aufnahmen zeigen angeblich ein gleichgeschlechtliches, sexuelles Verhältnis des 67-jährigen Oberbürgermeisters von Erzincan und einstigen CHP-Abgeordneten mit einem seiner Bodyguards.

Obwohl die Aufnahmen eindeutig erscheinen, bestreitet Sarıgül deren Echtheit. Er behauptet, dass sie durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz manipuliert wurden und verweist auf einen forensischen Bericht, der dies bestätigen soll. Trotz seines Dementis vertiefte sich das türkische Social Media längst in die Diskussion über den Inhalt der Aufnahmen.

Sarıgüls Privatsphäre verletzt – na und?

Kaum jemand spricht noch darüber, dass es sich um die Privatsphäre von Personen handelt, selbst wenn es sich um öffentliche Persönlichkeiten wie Sarıgül handelt. Der zog jüngst durch seine aktive Social-Media-Kommunikation und seine Botschaften über Inflation sowie wirtschaftliche Krisen verstärkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich.

Erstmals seit acht Jahren: Erdoğan empfängt CHP-Chef

Dass es gerade einen Mann aus den Reihen der zuletzt erstarkenden CHP trifft, dürfte kein Zufall sein. Vor einigen Monaten wurde ein ähnliches Video veröffentlicht, das das sexuelle Verhältnis eines AKP-nahen Medienchefs von TGRT mit zwei jungen Männern zeigt. Auch hier wurde die Privatsphäre der Betroffenen missachtet.

Historische Parallelen

Besonders regierungskritische Kreise begrüßten die Veröffentlichung, da der AKP-nahe Medienchef nach außen hin einen konservativen Lebensstil pflegte, während er in seinem Sender regelmäßig gegen LGBTQ-Gruppen hetzte. Die Debatte um diese Aufnahmen erinnert an den historischen Fall von Deniz Baykal, dem ehemaligen und mittlerweile verstorbenen CHP-Vorsitzenden.

Baykal wurde nach der Enthüllung eines unehelichen Verhältnisses mit einer Mitarbeiterin entmachtet. Der größte Gewinner dieser Sextape-Debatte damals war der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Er nutzte die Gelegenheit, um sich öffentlich gegen Baykal zu positionieren und damit seine eigene politische Position zu stärken.

Kassetten als Machtmittel

Bis heute spricht man in solchen Fällen von einem Inhalt mit einem für die Allgemeinheit bestimmten Charakter, was die Wahrung der Privatsphäre erschwert. Wenn schon Präsident Erdoğan so öffentlich über illegale Mitschnitte von privaten Situationen spricht, warum sollte es der Rest der Bevölkerung nicht tun? Der Fall Sarıgül ist aktuell in aller Munde, und auch sein angeblicher Liebhaber wird unzensiert verbreitet.

Zurück zu den Kassetten: In der türkischen Bevölkerung sind sie tief verankert. Durch Veröffentlichungen wie im Fall von Sarıgül, aber auch durch die Ebene der Verschwörungen kommt die Kassette in der Türkei nicht aus der Mode. Denn bevor überhaupt Enthüllungen passieren, geht man in der Türkei davon aus, dass es mutmaßlich über alle Politiker, Prominente und Wirtschaftsmenschen entsprechende Kassetten gibt.

Türkisches Social Media: „Wann kommt endlich die Kassette von Erdoğan?“

Eine Erklärungsgrundlage für türkische Verschwörungstheoretiker, warum sich keine Figur finden lässt, die sich gegen Präsident Erdoğan stellen könnte. „Letztlich haben alle Dreck am Stecken“, heißt es in Gesprächen mit Personen aus der einfachen Bevölkerung. Die Kassetten funktionieren noch, aber nur in der Türkei.

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Und auch über Präsident Erdoğan existieren seit Jahren Gerüchte um mögliche Mitschnitte von seinen mutmaßlichen Beziehungen zu prominenten Frauen. Obwohl es hierfür nie Belege gab, werden dem türkischen Präsidenten Beziehungen zu Damen aus der Pop-Szene, einer Nachrichtensprecherin und einer Journalistin nachgesagt.

Erdoğan indes lässt sich bei zahlreichen Gelegenheiten mit seiner langjährigen Ehefrau Emine ablichten. So nahm er seine First Lady zuletzt auch nach Berlin mit, um das Spiel der Türkei bei der EM im Stadion zu verfolgen. Verschwörungstheoretiker behaupten nun, dass Emine ihren Mann nicht mehr alleine in die weite Welt reisen lasse. Solange keine Belege bzw., um im Bilde zu bleiben, keine Kassetten vorliegen, bleiben das jedoch nur leere Gerüchte.