Panorama
„Der Perser“ über seine Zeit bei den Hells Angels: „Wichtig ist untertrieben“
Der tödliche Überfall in einem Wettbüro dauerte nur 25 Sekunden, die anschließenden Prozesse gegen Hells-Angel-Rocker Jahre. Einer von ihnen gilt seitdem als Verräter und ist im Zeugenschutzprogramm.
Er ist zurückgekommen in die Hauptstadt, „das Loch“, wie er sagt. Seit knapp zwei Jahren ist der 35-Jährige raus aus dem Gefängnis, doch gänzlich frei ist er nicht. Seit er in einem der bundesweit spektakulärsten Rocker-Prozesse gegen seine früheren Komplizen ausgepackt hat, gilt Kassra Zargaran als Verräter und ist im Zeugenschutzprogramm. Fernab von Berlin lebt der Vater einer Tochter im Teeniealter nun unter anderem Namen „ein ruhiges Leben“, wie er sagt. Das riskiert er jedoch, um für sein Buch zu werben. „Das lasse ich mir nicht nehmen. Ich bin vorsichtig“, sagt der Mann mit kurzgeschorenen Haaren und muskulösem Oberkörper selbstbewusst.
Seine Arme sind komplett tätowiert, der Hals bis zum Kopf ebenfalls. Es seien nach der Haft noch ein paar Tätowierungen hinzugekommen, berichtet er. Auch, um vorhandene Bilder anzupassen oder abzuändern. Geblieben ist der Totenkopf mit Engelsflügel von den Hells Angels. Er sei Teil seiner Geschichte, so „der Perser“, wie er früher in der Szene hieß, als er der gewalttätigsten Gruppierung der Hells Angels in Deutschland angehörte. Er verwendet ihn auch als Titel für sein Buch, das er gemeinsam mit dem Autor Nils Frenzel verfasst hat: „Der Perser. Wie ich ein Hells Angel wurde, als Kronzeuge vor Gericht auspackte und im Zeugenschutz landete“.
Immer noch gefährdet
Nachdem viel über ihn geschrieben worden sei, wolle er seine Version darstellen. „Es geht um meine Wahrnehmung“, erklärt er und blickt stolz auf das Cover mit seinem Foto. In Ermittlerkreisen verfolgt man seine öffentlich Auftritte teils verwundert. Zargaran sei weiter gefährdet und ein Racheakt nicht ausgeschlossen. Verbieten können die Behörden das nicht, trotz Zeugenschutzprogramm.
Hat der Ex-Rocker keine Angst, dass er etwa von Nachbarn in seiner neuen Heimat erkannt und dann seine kriminelle Vergangenheit zum Problem wird? Oder dass sich die Nachricht herumspricht und seine früheren Komplizen aktiv werden? „Angst ist eine hemmende Eigenschaft, die einem die Lebensqualität entziehen kann. Darauf habe ich mich nicht eingelassen“, sagt er. In der Haft sei er nahezu isoliert gewesen. Nun versuche er, sich nicht von „irgendwelchen Leuten“ zusätzlich einen Teil seines Lebens nehmen zu lassen. „Manche Menschen wenden sich aber von mir ab, weil sie sich dem Ganzen nicht aussetzen wollen“, räumt er ein.
Mehr als 370 Zeugen für einen Mord im Wettspielcafé
Rückblick: 13 teils vermummte Männer – darunter Zargaran – marschieren am 10. Januar 2014 in ein Wettspielcafé im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Der Mann an der Spitze feuert im Hinterzimmer mit einer Pistole ohne Vorwarnung auf das 26 Jahre alte Opfer. Getroffen von sechs Kugeln stirbt dieses noch im Café. Der Schütze und seine Begleiter fliehen. Die Polizei veröffentlicht später Aufnahmen der Tat, die mehrere Videokameras aufgezeichnet haben. Zahlreiche deutsche und türkische Hells-Angels-Rocker werden in den nächsten Wochen gefasst.
Der Anschlag soll die Rache für eine Schlägerei vor einer Diskothek 2013 mit einem verletzten Hells-Angels-Rocker gewesen sein. Zudem hätten die Rocker ihre Machtposition verdeutlichen wollen, hieß es später von der Berliner Staatsanwaltschaft. Der Prozess gegen zehn Angeklagte dauerte knapp fünf Jahre, mehr als 370 Zeugen und Sachverständige wurden gehört, darunter Zargaran als Kronzeuge.
Einige tauchten in der Türkei unter
Im Oktober 2019 folgt das Urteil des Landgerichts: lebenslange Freiheitsstrafen für sieben Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Mordes. Der Rockerchef, der die tödlichen Schüsse in Auftrag gegeben haben soll, wird wegen Anstiftung zum Mord verurteilt. Kronzeuge Zargaran wird ebenfalls wegen Mordes verurteilt – kommt aber mit zwölf Jahren glimpflicher davon. Auch der zehnte Angeklagte erhält eine niedrigere Strafe. Weitere Verdächtige hatten sich in die Türkei abgesetzt. Der Bundesgerichtshof bestätigte im November 2021 die Verurteilungen im Wesentlichen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kronzeuge längst in Freiheit. Nach sechs Jahren und sieben Monaten Haft kam er wieder auf freien Fuß.
Die Idee für das Buch sei ihm bereits in der Haft gekommen, schildert der 35-Jährige. Nach der Haft sei das Interesse von Medien und Verlagen „sehr groß“ gewesen. „Das hat gepasst“, sagt er und räumt ein: „Natürlich ist das auch ein Geschäft.“ Er sei berufstätig, gibt Zargaran an. Aber der jahrelange Prozess hat immense Kosten verursacht, die auch ein Kronzeuge zu begleichen hat.
Wie wird man Rocker?
In seinem Buch schildert der Ex-Rocker auf rund 270 Seiten seine Jugend in Norderstedt bei Hamburg als Sohn eines aus dem Iran stammenden Optikers und einer Erzieherin mit chilenischen Wurzeln, sein Abdriften in die kriminelle Szene und seine Faszination für das Leben mit den Hells Angels samt Gewalt und Verbrechen. Ein System, das er heute als „maximal menschenverachtend“ bezeichnet, ihn damals aber nach Berlin umziehen ließ. „Der Club und vor allem die Außenwirkung des Clubs waren mir wichtig. Wobei „wichtig“ vielleicht untertrieben ist. In dieser Phase meines Lebens war der Club alles für mich. Der Club bestimmte mein Leben. Er war mein Leben.“
Nach dem Mord im Wettspielcafé fällt sein Entschluss zum Ausstieg bei den Rockern und zur Aussage bei der Polizei – aus Sicht der Hells Angels der größtmögliche Verrat. „Ich hatte gedanklich zwar schon vor Monaten mit dem Club abgeschlossen und wollte dieses Leben längst hinter mir lassen, aber jetzt war es endgültig vorbei“, erläutert Zargaran.
Wechsel von einem ins andere Extrem
In der Untersuchungshaft entfremdet er sich nach eigenen Angaben weiter. Sein neuer Verteidiger Steffen Tzschoppe rät ihm zur Kronzeugenregelung. „Es war ein Wechsel von einem ins andere Extrem. Denn allumfassend auszusagen hieß gleichzeitig auch: mein altes Leben zu beenden.“ Und weiter: „Ich wollte nicht für eine „Gemeinschaft“ sitzen, die mordete.“
Er habe nicht nur seine Haut retten wollen, sagt der Kronzeuge heute. „Man macht so einen Schritt nicht, weil man zwei, drei Jahre Haft weniger haben möchte. Das ist eine Entwicklung.“ Er habe sich als Person völlig gewandelt. „Ich habe damals etwas ganz anders vertreten als heute. Das ist ein Prozess, der im besten Fall nachhaltig ist.“
dpa/dtj