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Politik

Der Tiefe Staat will keine Versöhnung zwischen Türken und Armeniern

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Heute jährt sich die Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink zum 9. Mal. Dink war ein Symbol dafür, dass eine Aussöhnung zwischen Türken und Armeniern möglich sein kann. Auch in Berlin wird ihm heute gedacht.

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„Komm, lass uns zuerst den anderen verstehen. Komm, lass uns zuerst den Schmerz des anderen respektieren. Komm, lass uns zuerst den anderen leben“, forderte Hrant Dink von seinen Landsleuten. Der Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos war einer der umstrittensten Journalisten der letzten Jahrzehnte in der Türkei – und bezahlte das mit dem Leben. Seine Ermordung durch den Rechtsextremisten Ogün Samast am 19. Januar 2007 war eine Zäsur, nicht nur für die Armenier in der Türkei.

Dinks Lebenswerk war es, sich für die Aussöhnung von Türken und Armeniern einzusetzen. Für manche Kreise war allein das schon Grund genug, ihn zu hassen. Der 1954 im ostanatolischen Malatya geborene Dink war schon als Student bei der politischen Linken aktiv, wurde nach dem Militärputsch von 1980 dreimal verhaftet und verbrachte mehrere Monate im Gefängnis. 1996 gründete er mit einigen Freunden in Istanbul die erste armenisch-türkische Zeitung der Türkei: Agos, die bis heute in beiden Sprachen erscheint.

Mit ihr fasste er regelmäßig heiße Eisen in Politik und Gesellschaft an, was ihm Bewunderung einerseits und glühenden Hass andererseits einbrachte. Der oft irrational geführten Debatte um die Ereignisse von 1915 setzte er einen empathischen Ansatz entgegen, der sich nicht auf gegenseitige Schuldzuweisungen reduzieren ließ, sondern für gegenseitiges Verständnis warb. „Er hat mit seiner eigenen Aussprache die Menschen zueinander gebracht und die Türken mit den Verbrechen am armenischen Volk konfrontiert. Das tat er aber auf eine derart einfühlsame Art und Weise, dass er auch die Herzen der Türken berühren konnte“, sagt Nihat Kentel gegenüber DTJ.

Kentel vom Verein „AKEBİ – Aktivisten gegen Rassismus, Nationalismus und Diskriminierung“ ist einer der Organisatoren der heutigen Gedenkveranstaltung für Hrant Dink im Berliner Maxim Gorki Theater. Dinks Arbeit habe den Diskurs zur Armenierfrage in der Türkei geöffnet und es ermöglicht, sich freier zum streitbaren Thema 1915 zu äußern: „Wir können jetzt in der Öffentlichkeit das Wort Genozid verwenden, vor Hrant Dink ging das nicht. Er hat diesen Weg geebnet, seine Arbeit hat eine bessere geschichtliche Aufarbeitung ermöglicht.“

Hass ist Gift in den Adern

Dennoch oder gerade deshalb musste er sich unzählige Male vor Gericht verantworten. Der bekannteste Prozess fand nicht einmal ein Jahr vor seinem Tod statt. Dink hatte in einer Reihe von Kolumnen die armenische Diaspora kritisiert und an sie appelliert, sich von ihrem Hass auf die Türkei zu lösen und konstruktive Wege zu suchen, ein gesundes Verhältnis des gegenseitigen Respekts zwischen Armeniern und Türken zu schaffen. Der Hass auf die Türken sei Gift in den Adern der Armenier. Verfälscht und aus dem Kontext gerissen brachte ihm das den Vorwurf ein, er habe das türkische Blut als giftig bezeichnet und geschrieben, die Vermischung der beiden Völker würde die Armenier vergiften. Trotz dass eine Gruppe von juristischen Sachverständigen vor Gericht zu dem Schluss kam, dass dieser Vorwurf nicht haltbar sei, wurde er auf Grundlage des berüchtigten Artikels 301 des Türkischen Strafgesetzbuchs wegen „Beleidigung des Türkentums“ zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Im Oktober 2006 zog Dink vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um mehrere Urteile gegen ihn anzufechten. Dessen Urteilsspruch erlebte er jedoch nicht mehr.

Als Hrant Dink am Morgen des 19. Januar 2007 die Redaktion seiner Zeitung Agos in Istanbul verlässt, strecken ihn drei Schüsse in Rücken und Hinterkopf nieder. Zwei Tage später wird in einem Bus in der Nähe von Samsun der aus Trabzon stammende 16-Jährige Rechtsextremist Ogün Samast verhaftet. Behandelt wird er nicht wie ein fanatischer Meuchelmörder, sondern wie ein Held. Zwei Polizisten machen bei der Verhaftung stolz Erinnerungsfotos mit Samast und einer türkischen Flagge.

Doch der dramatische Tod Hrant Dinks fördert auch eine der besten Seiten der türkischen Gesellschaft zutage. Mehr als 100.000 Menschen gehen in Istanbul auf die Straße und nehmen an Dinks Beerdigung teil, es ist der bis dahin größte Trauerzug der türkischen Geschichte. Sie halten Schilder mit „Wir alle sind Hrant. Wir alle sind Armenier“ in die Luft. Tausende von Türken mit „Wir alle sind Armenier“-Schildern –  allein das ist schon eine historische Leistung Hrant Dinks.

Gedenkveranstaltung für Hrant Dink

„Der Staat hat Angst davor, dass dieser Mordfall gelöst wird.“

Relativ schnell wird offensichtlich, dass der minderjährige Attentäter Samast höchstwahrscheinlich nicht allein gehandelt hat. Beim Prozess gegen ihn treten Widersprüche zutage, Verstrickungen staatlicher Organe deuten sich an. Dennoch wird nicht weiter ermittelt, Samast wird der Öffentlichkeit als Einzeltäter präsentiert. Bis heute sind die genauen Hintergründe der Ermordung nicht offiziell untersucht worden.

„Die Hintermänner sind bis heute nicht aufgeklärt, der Staat hängt da mit drin. Vor circa zwei Wochen erst wurde ein Staatsanwalt versetzt, als er dabei war, weitere Beteiligte aufzudecken“, sagt Nihat Kentel DTJ und fügt enttäuscht hinzu: „Die AKP ist mit dem Versprechen an die Macht gekommen, mit diesen Strukturen des Tiefen Staates aufzuräumen. Es hat sich aber gezeigt, dass sie sich diese Strukturen mittlerweile selbst zu eigen gemacht hat.“ Er sieht eine Kontinuität von der Ermordung Dinks bis in die heutige Zeit: „Ich vermute, dass auch Tahir Elçi mit den gleichen Methoden und von ähnlichen Hintermännern getötet wurde. Die Personen sind vielleicht andere, aber die Methoden des Staates sind dieselben. Der türkische Staat benötigt diese Hintermänner und will deswegen gar keine Aufklärung.“

Eine ähnliche Sicht auf den Mordfall hat Süleyman Bağ, der Chefredakteur des DeutschTürkischen Jopurnals. „Dass der Mord juristisch nicht aufgearbeitet ist und die Täter und Hintermänner nicht ihre gerechte Strafe bekommen haben, ist genauso schlimm wie die Ermordung selbst“, sagt er. Bağ traf Hrant Dink mehrmals persönlich und bestätigt den Eindruck eines Brückenbauers: „Hrant Dink war einer der wenigen türkisch-armenischen Intellektuellen, denen es gelungen ist, sowohl Türken als auch Armenier in der Türkei im Kopf und im Herzen zu erreichen. Wenige Monate vor seiner Ermordung – ich glaube es war Ende Oktober 2006 – hatte ich die Gelegenheit, in der Redaktion von Agos ein zweistündiges Gespräch mit ihm zu führen. Es ging um die Rechte der Minderheiten und Hrant Dink war ein glaubwürdiger Anwalt der Minderheiten in der Türkei sowie der Türkei im Ausland. Er war ein wichtiger Intellektueller, der den Mut hatte, seine Stimme auch in schwierigen Zeiten für Verständigung und Dialog zu erheben. Umso mehr trauere ich heute um ihn.“

Dieser Trauer wird heute bei einer musikalischen Lesung im Berliner Maxim Gorki Theater Ausdruck verliehen. Ab 20.30 Uhr lesen Mareike Beykirch und Mehmet Yılmaz mit musikalischer Begleitung von Muammer Ketencoğlu. Bereits ab 18 Uhr findet eine Kundgebung am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg statt. In zwei Reden auf Türkisch und Deutsch soll vor allem Gerechtigkeit gefordert werden, kündigt Nihat Kentel an: „Der Staat hat Angst davor, dass dieser Mordfall gelöst wird. Mit der Kundgebung soll darauf hingewiesen werden, dass der Staat das noch nicht aufgearbeitet hat.“