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Der Tod Gülens und die verzerrte Wahrnehmung einer Bewegung
Der Tod von Fethullah Gülen hat weltweit Schlagzeilen gemacht und die Bedeutung seines Lebenswerks neu in den Fokus gerückt. Doch während Gülens Einfluss auf Bildung, Dialog und soziales Engagement weltweit Anerkennung fand, zeigt die Berichterstattung über sein Vermächtnis in den deutschen Medien oft eine einseitige Perspektive, die die komplexen historischen und politischen Hintergründe der Hizmet-Bewegung vernachlässigt.
Ein Gastbeitrag von Talha Güzel*
Am 20. Oktober verstarb Fethullah Gülen, der spirituelle Mentor und Begründer der Hizmet-Bewegung. Sein Tod markiert das Ende eines Lebens, das weltweit Millionen Menschen durch Bildung, Dialog und soziales Engagement beeinflusst hat. Doch die Berichterstattung über diesen Todesfall, vor allem in den deutschen Medien, offenbart erneut die verzerrte Wahrnehmung und die Voreingenommenheit, mit der über die Hizmet-Bewegung gesprochen wird.
Die historische Polarisierung in der Türkei: Kemalismus versus Religion
Ein zentrales Element, das in der Berichterstattung oft ignoriert wird, ist der tiefgreifende historische Konflikt in der Türkei zwischen religiösen Menschen und den Vertretern des Kemalismus. Seit der Gründung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk ist der Staat von einem strikten Laizismus geprägt, der Religion als potenzielle Gefahr für den säkularen Charakter des Landes betrachtete. Über Jahrzehnte hinweg wurden religiöse Aktivitäten unterdrückt, und der Einfluss von Religion nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Leben systematisch eingedämmt. In diesem Kontext entstand die Hizmet-Bewegung – eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die zwar religiöse Werte betont, jedoch stets die Bedeutung von Bildung, sozialem Engagement und friedlichem Dialog hervorgehoben hat.
Diese historische Spaltung wirkt bis heute nach. Kritische Stimmen gegenüber der Hizmet-Bewegung können fast ausschließlich zwei Lagern zugeordnet werden: den Kemalisten, die Religion generell mit Misstrauen betrachten, und den Anhängern von Präsident Erdoğan, dessen zunehmend autoritärer Regierungsstil in direktem Widerspruch zu den pluralistischen und dialogorientierten Prinzipien der Hizmet-Bewegung steht. Während Kemalisten oft einen Generalverdacht gegenüber religiösen Menschen hegen, sieht Erdoğan in der Bewegung eine konkrete Bedrohung für seine Macht. Diese Lager sind in der Türkei tief verankert, und ihre jeweiligen Ansichten dominieren den Diskurs – auch international.
Tendenziöse Berichterstattung: Fehlende Differenzierung in deutschen Medien
In deutschen Medien wird diese komplexe historische und ideologische Polarisierung jedoch kaum reflektiert. Stattdessen beruft man sich häufig auf türkischstämmige Experten, die – oft bewusst, manchmal unbewusst – einer dieser beiden Gruppen angehören. Dies führt zu einer Berichterstattung, die fast ausschließlich die Positionen der Gegner der Hizmet-Bewegung wiedergibt. Die tiefe gesellschaftliche Spaltung in der Türkei wird in vielen Artikeln und Berichten entweder ignoriert oder nur oberflächlich erwähnt. Objektive Analysen, die beide Seiten beleuchten, fehlen oft völlig.
Diese Verzerrung zeigt sich besonders deutlich in der Art und Weise, wie die Bewegung beschrieben wird. Selbst angesehene Medien wie die Tagesschau sprechen von einer „sektenartigen islamistischen Bewegung“. Solche Aussagen sind nicht nur unzutreffend, sondern auch sachlich falsch. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, hat die Gülen-Bewegung als „zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“ bezeichnet – eine Einschätzung, die in der deutschen Berichterstattung jedoch kaum Beachtung findet. Die Bezeichnung „Sekte“ oder „islamistisch“ wird von den extremsten Gegnern der Bewegung verwendet, insbesondere aus Kreisen, die ideologisch entweder dem Kemalismus oder der AKP-Regierung nahestehen.
Wikipedia und der Missbrauch von unbelegten Behauptungen
Ein weiteres Beispiel für diese verzerrte Darstellung findet sich in Wikipedia, wo behauptet wird, die Hizmet-Bewegung weise „nachweisbar sektiererische Merkmale“ auf. Diese Aussage basiert auf einem Artikel des Journalisten Michael Martens, der genau dies behauptet, jedoch ohne schlüssige Beweise zu liefern. Dass eine solche unbelegte Behauptung als Quelle in einer der weltweit am häufigsten genutzten Informationsplattformen verwendet wird, wirft Fragen über die Qualität der Quelle auf. Solche Aussagen haben den Anschein eines argumentum ad populum – eine Behauptung wird durch ihre bloße Wiederholung populär und erscheint schließlich als wahr, auch wenn ihr die Faktenbasis fehlt.
Ein oft wiederholtes Missverständnis ist auch die Behauptung, Gülen und Erdoğan seien einst Verbündete gewesen. Auch für diese Behauptung fehlen jegliche stichhaltigen Beweise. Es ist zwar korrekt, dass die Hizmet-Bewegung die AKP-Regierung bis etwa 2010 in vielerlei Hinsicht unterstützte – sei es durch individuelle Wählerstimmen oder durch mediale Unterstützung, etwa durch die Zeitung Zaman, die bis 2013 die auflagenstärkste Tageszeitung in der Türkei war. Doch dies wird häufig als Beleg für eine Art „islamistische Allianz“ zwischen Gülen und Erdoğan missverstanden.
Was hierbei übersehen wird, ist der historische Kontext. Bis etwa 2010 galt Erdoğan als demokratischer Reformer, der die Türkei von der jahrzehntelangen Vorherrschaft des kemalistischen Militärs befreite und eine Demokratisierung anstrebte. Diese Erfolge seiner Regierungszeit wurden sowohl von der EU als auch von den USA ausdrücklich unterstützt. Internationale Politiker und Kommentatoren lobten Erdoğan damals als „Modell“ für den Nahen Osten. Viele sahen in ihm einen Hoffnungsträger für die Demokratisierung muslimisch geprägter Länder.
Kritische Auseinandersetzung oder negative Vorverurteilung?
Auch die Hizmet-Bewegung unterstützte diese demokratischen Reformen, weil sie davon überzeugt war, dass die Türkei auf diesem Weg eine bessere Zukunft haben könnte. Doch diese Unterstützung war weniger das Resultat eines persönlichen Bündnisses, sondern vielmehr Ausdruck einer gemeinsamen Überzeugung: Beide Seiten glaubten an die Notwendigkeit, die Dominanz der kemalistischen Elite in der Türkei zu brechen und das Land zu demokratisieren. Dass Erdoğan sich nach 2010 zunehmend zu einem Autokraten entwickelte, ist eine andere Geschichte, die später begann. In der Berichterstattung wird dieser entscheidende Kontext jedoch oft verschwiegen, und es entsteht der Eindruck, als hätten sich Gülen und Erdoğan von Anfang an für eine gemeinsame islamistische Mission verbündet.
Es ist zweifellos wichtig, dass Medien sich kritisch mit der Gülen-Bewegung auseinandersetzen. Kritisch bedeutet jedoch nicht zwangsläufig negativ. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung würde verschiedene Perspektiven einbeziehen und versuchen, das Phänomen in seiner Komplexität zu verstehen. Stattdessen beschränken sich viele Medienberichte darauf, die Positionen der Gegner der Bewegung zu wiederholen. Dass es zahlreiche Akademiker gibt, die sich wissenschaftlich mit der Bewegung auseinandersetzen, wird dabei weitgehend übersehen. Diese Forscher, darunter auch deutschsprachige, kommen oft zu positiveren und differenzierteren Einschätzungen, die jedoch in den deutschen Mainstream-Medien kaum Berücksichtigung finden.
Der Einfluss Erdoğans auf die Wahrnehmung der Bewegung
Ein weiterer Faktor, der die Berichterstattung über die Gülen-Bewegung prägt, ist die politische Entwicklung in der Türkei. Präsident Erdoğan hat sich in den letzten Jahren zunehmend zu einem autoritären Herrscher entwickelt. Die Hizmet-Bewegung, die in ihrer Philosophie auf Dialog und Pluralismus setzt, steht im scharfen Kontrast zu Erdoğans autoritärer Politik. Seit dem Putschversuch 2016, für den Erdoğan die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, hat sich die Rhetorik gegen die Bewegung weiter verschärft. Diese offizielle Darstellung findet auch in internationalen Medien, einschließlich der deutschen, Anklang, obwohl unabhängige Untersuchungen die Verantwortung der Bewegung für den Putschversuch nicht bestätigen konnten.
Erdoğan hat es erfolgreich geschafft, die Gülen-Bewegung international als „Staatsfeind“ zu brandmarken. Viele türkische Medien stehen unter staatlicher Kontrolle, abweichende Meinungen werden unterdrückt. Diese Realität wird in der deutschen Berichterstattung oft übersehen oder nicht ausreichend kontextualisiert. Stattdessen wird das offizielle Narrativ der türkischen Regierung häufig unkritisch übernommen.
Der Tod Gülens sollte ein Anlass sein, die Bewegung, die er inspiriert hat, mit größerer Objektivität zu betrachten. Die Berichterstattung über die Hizmet-Bewegung in Deutschland ist oft von tendenziösen Darstellungen geprägt, die die tiefen ideologischen und politischen Gräben in der Türkei ignorieren. Es wäre wünschenswert, dass deutsche Medien diese Komplexität anerkennen und beginnen, differenzierter und faktenbasierter über die Bewegung zu berichten. Nur so kann ein gerechter und ausgewogener Diskurs entstehen, der den tiefen historischen, politischen und religiösen Hintergründen gerecht wird.
*Talha Güzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Dialog und Bildung und Redakteur der von der Stiftung herausgebrachten wissenschaftlichen Zeitschrift DuB.