Politik
Getreide: Wie die Türkei die Nahrungsversorgung in Teilen der Welt sichern könnte
Mit der Blockade der Schwarzmeerhäfen für Getreide-Exporte droht eine Nahrungskrise in einigen Teilen der Welt. Ein Treffen zwischen Russland und der Türkei endet mit Schuldzuweisung und Relativierung. Eine Lösung ist weiter nicht in Sicht.
Im Streit um die Blockade von ukrainischem Getreide in Häfen am Schwarzen Meer hat Russland jegliche Schuld von sich gewiesen. Außenminister Sergej Lawrow machte bei einem Besuch in der Türkei am Mittwoch die Ukraine selbst dafür verantwortlich.
Die Ukraine weigere sich bislang, ihre Häfen zu entminen oder anderweitig Durchfahrten von Frachtschiffen zu gewährleisten, sagte Lawrow nach einem Treffen mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Ankara. Konkrete Ergebnisse wie etwa die Einrichtung eines Sicherheitskorridors brachte das Treffen nicht.
Häfen voller Getreide
Faktisch blockiert die russische Marine seit Beginn des Angriffskriegs auf das Nachbarland vor mehr als drei Monaten die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen. Die Ukraine, weltweit der viertgrößte Getreideexporteur, sitzt deshalb auf den eigenen Vorräten fest.
Nach ukrainischen Angaben können mehr als 23 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten nicht exportiert werden. Vor dem Krieg gingen 90 Prozent des Exports über die Häfen. Drei davon – Mariupol, Berdjansk und Cherson – sind unter russischer Kontrolle. Der Hafen in Mykolajiw ist schwer beschädigt, nun laufen Verhandlungen über die Freigabe von Odessa.
Lawrow: „Hoffen, dass das Getreide-Problem gelöst wird“
Die Gespräche sind allerdings von Misstrauen und Vorwürfen geprägt. Kiew beschuldigt Moskau etwa des Getreidediebstahls. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj haben die russischen Truppen aus den Besatzungsgebieten bereits eine halbe Million Tonnen Getreide geraubt.
„Wir sind bereit, die Sicherheit zu gewährleisten, die die ukrainischen Häfen verlassen“, sagte Lawrow. Mit Blick auf die Ukraine fügte er hinzu: „Wenn sie jetzt – wie uns unsere türkischen Freunde sagen – bereit ist, entweder Minen zu räumen oder den Durchgang durch Minenfelder zu gewährleisten, dann hoffen wir, dass dieses Problem gelöst wird.“
Minenräumung: Russland setzt auf Türkei
Çavuşoğlu sagte, die Türkei befürworte einen Plan der Vereinten Nationen, der alle drei Länder einbeziehe. Kiew und Moskau müssten dem aber noch zustimmen. Russland fordert die Entschärfung von Seeminen in den Gewässern vor der Schwarzmeer-Küste, damit der Schiffsverkehr sicher sei. Dabei könnten türkische Experten helfen.
Die Ukraine befürchtet im Falle der Einrichtung von Durchfahrtskorridore allerdings neue Angriffe von der russischen Kriegsmarine – was Lawrow in Ankara zurückwies. Russland wiederum will verhindern, dass Schiffe verdeckt Kriegsgerät in die Ukraine bringen. Das russische Verteidigungsministerium schlug vor, den Hafen der besetzten ukrainischen Stadt Mariuopol am Asowschen Meer für den Getreideexport zu nutzen.
Ukrainer kritisieren russische Haltung
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak kritisierte Moskau scharf. „Russland sollte nicht über die Bedrohung durch Hunger sprechen – sie sind es, die Getreide stehlen und Getreidespeicher bombardieren“, teilte er per Twitter mit. „Russland sollte nicht über die Minenräumung von Häfen sprechen – sie haben bereits eine Hafenstadt zerstört.
#Ukraine accounts for 14% of the world's #corn & #wheat exports. Africa, the Middle East and China are among top recipients. About 3/4 of Ukraine's corn/wheat crop is exported, and nearly all that grain flows out of southern Black Sea ports Odessa & Mykolaiv 🇺🇦 pic.twitter.com/f3idX1cM5a
— Karen Braun (@kannbwx) January 24, 2022
Russland sollte nicht über Angemessenheit und Verhandlungen sprechen – sie töten Zivilisten zum Spaß“, betonte er. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte Russlands Präsidenten Wladimir Putin und seinen Krieg gegen die Ukraine für drohende Hungersnöte auf der Welt verantwortlich.
Lebensmittel „Teil des Kreml-Terrorarsenals“
„Lebensmittel sind nun zu einem Teil des Terrorarsenals des Kremls geworden“, sagte die deutsche Politikerin im Straßburger Europaparlament. „Dies ist eine kalte, gefühllose und kalkulierte Belagerung durch Putin gegen einige der verletzlichsten Länder und Menschen der Welt.“
Der Sondergesandte des ukrainischen Präsidenten für die EU-Perspektive des Landes, Oleksij Tschernyschow, warnte, dass wegen der Blockade Russlands eine Hungerkrise etwa in den nordafrikanischen Ländern drohe. „Es könnte sogar zu Migrationsbewegungen kommen. Wir reden hier über Ägypten, Tunesien und andere nordafrikanische Länder.“
Russland sieht keine „universelle Katastrophe“
Lawrow spielte jedoch die weltweite Sorge vor Hungerkrisen herunter. Das Problem beim Export von ukrainischem Getreide werde vom Westen als „universelle Katastrophe“ eingestuft, obwohl der ukrainische Anteil an der weltweiten Produktion von Weizen und anderen Getreidearten weniger als ein Prozent ausmache.
Später fügte Lawrow hinzu: „Von unserer Seite gab es nie irgendwelche Hindernisse, um dieses Problem – in Wirklichkeit ein Problemchen, es ist klein – zu lösen. Sollten die Kiewer Behörden reifen, werden wir nur zu gerne kooperieren.“ Russlands Außenminister erklärte zudem, dass aus Moskauer Sicht in der Ukraine militärisch alles „nach Plan“ laufe.
Ankara in Vermittlerrolle
Die Ziele der „militärischen Spezial-Operation“ – wie der Krieg gegen das Nachbarland in Russland offiziell genannt wird – würden erreicht. Die Türkei sieht sich seit Kriegsbeginn Ende Februar in der Vermittlerrolle und unterhält sowohl zu Russland und zu Ukraine enge Beziehungen.
Ankara hat sich nicht an Sanktionen gegen Moskau beteiligt – mit Ausnahme der Sperrung ihres Luftraums für militärische und zivile Flugzeuge, die Soldaten aus Russland nach Syrien bringen. Im März hatten sich ukrainische und russische Delegationen in Istanbul getroffen. Zuvor waren Lawrow und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba in der Mittelmeerstadt Antalya zusammengekommen.
dpa/dtj