EURO2024
Mega-Parade und Rekord-Tor: Türkei schlägt auch Österreich und steht im Viertelfinale
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Tief enttäuscht und völlig durchnässt schlich Ralf Rangnick nach dem Ende aller EM-Träume zu seiner Trainerbank. Österreichs deutscher Chefcoach setzte sich nur langsam hin und nahm seine Kappe ab, während sich im anderen Teil des Stadions das komplette Gegenteil abspielte: Die siegreichen Türken tanzten vor ihrer roten Fan-Kurve und stimmten mit lautem Gesang ihre Triumph-Party an.
2:1 (1:0) siegte das von Trainer Vincenzo Montella trainierte Team am Dienstagabend in einem mitreißenden EM-Achtelfinale. Das schnellste K.-o.-Runden-Tor bei einer Fußball-Europameisterschaft und wie entfesselt spielende und leidenschaftlich verteidigende Türken haben alle Träume von Geheimfavorit Österreich zerstört und auch Rangnicks Rückkehr nach Leipzig zum Abend der großen Enttäuschung gemacht.
Traumstart dank Demiral
Eingeleitet wurde dieser Erfolg durch den Führungstreffer von Doppeltorschütze Merih Demiral nach nur 57 Sekunden. „Wir sind super glücklich. Es war ein wunderbarer Sieg“, sagte der türkische Torwart Mert Günok, der ganz spät im Spiel noch eine Hauptrolle spielte. „Und ich glaube: Unser Weg hier ist noch ziemlich lang. Wir glauben daran, dass wir ihn bis zum Ende bestreiten können.“
Um den Einzug ins EM-Halbfinale spielen die Türken, die überraschend mit einer Dreier- bzw. Fünferkette aufliefen, nun am Samstag in Berlin gegen die Niederländer, die zuvor Rumänien mit 3:0 geschlagen hatten (Anpfiff um 21 Uhr). Die Türkei steht erstmals seit 2008 wieder im Viertelfinale einer EM – damals war in der Vorschlussrunde gegen Deutschland Schluss. Geht es jetzt bis ins Endspiel? Möglich scheint es. Im Halbfinale würde der Sieger der Partie zwischen der Schweiz und England warten.
Für Rangnick und sein Team wurde dagegen nichts aus dem erstmaligen Viertelfinal-Einzug bei einem EM-Endrundenturnier. Nach einem weiteren Treffer von Demiral (59.) nutzte den mit Bundesliga-Profis gespickten Österreichern auch der Anschlusstreffer von Freiburgs Michael Gregoritsch (66.) sowie eine große Schluss-Offensive nichts mehr.
Fast-Heimspiel für die Türkei
Rangnicks Hoffnung auf ein bisschen Heimspielstimmung bei seiner Rückkehr nach Leipzig war schnell dahin: Zwar trugen fast alle Fans rot – aber die deutliche Mehrheit der 38 305 Zuschauer waren türkische Anhänger. Sie waren laut und wurden nach nicht mal einer Minute noch viel lauter, als der Ball vor der Kurve der türkischen Fans im Netz des österreichischen Tores zappelte.
Nach einer scharfen Ecke von der linken Seite durch Ausnahmespieler Arda Güler klärte Leipzigs Christoph Baumgartner noch vor der Linie, der Ball sprang aber gegen Mitspieler Stefan Posch, Torwart Patrick Pentz rettete direkt vor die Füße von Demiral. Im österreichischen Strafraum brannte es lichterloh, der Profi aus der saudi-arabischen Liga zögerte nicht und sorgte für die erste Stimmungsexplosion.
Türkei-Nachwuchshoffnung Güler profitiert von Çalhanoğlu-Sperre
An der Seitenlinie musste Rangnick das erstmal verdauen. Schnelle Tore sind eigentlich die Spezialität seiner Mannschaft. Nur kurz vor dem Gegentor war Borussia Dortmunds ehemaliger RB-Profi Marcel Sabitzer aber nach einem Baumgartner-Zuspiel nicht an den Ball gekommen.
Ein heißes Spiel hatten Rangnick und seine Spieler erwartet, nachdem sie im März ein Testmatch gegen die Türkei noch 6:1 gewonnen hatten. Und Österreich, das sich als Gruppenerster vor Frankreich, den Niederlanden und Polen für das Achtelfinale qualifiziert hatte, bekam es auch. Jungstar Güler von Real Madrid peitschte die türkischen Fans an und sorgte mit seinen mit links getretenen Ecken immer wieder für Gefahr. Standards sind eigentlich die Sache von Kapitän Hakan Çalhanoğlu, der fehlte allerdings wegen einer Gelbsperre.
Österreich-Chancen trotz großem Druck Mangelware
Das Spiel musste aber die Pressing-Maschine von Rangnick machen. Die beste Chance zum Ausgleich hatte Baumgartner, der zuletzt sechs Tore in acht Spielen erzielt hatte. Der RB-Profi scheiterte mit einem Distanzschuss (3.).
Die Türken konnten das machen, was eigentlich Österreichs Stärke ist: Kontern. Und dabei blieben sie gefährlich. Richtig gute Szenen der Mannschaft von Rangnick, der einst in Leipzig den rasanten Vormarsch von RB von 2012 bis 2019 maßgeblich mitgestaltet hatte, blieben bis zur Pause Mangelware.
Der große Abend von Demiral – 130 Dezibel beim zweiten Tor
Dass sich das ändern musste, war klar. Die Österreicher drängten nach dem Seitenwechsel, und zwar gehörig. Die beste Gelegenheit vergab Kapitän Marko Arnautović (51.) freistehend. Und dann das: Erneut Ecke, wieder getreten von Güler. Und erneut war es Demiral, der traf. Flankiert von zwei Österreichern, die er klar übersprang, köpfte er den Ball aus wenigen Metern ein. Laut dem Sender MagentaTV, der die Partie in Deutschland exklusiv übertrug, wurden im Stadion im Anschluss 130 Dezibel gemessen, das ist vergleichbar mit der Lautstärke, für die ein Düsenjet sorgt.
War’s das? Nein, denn Österreich berappelte sich und verkürzte durch den eingewechselten Gregoritsch. Gegen die pfeifende türkische Fankurve anspielend, blieben alle weiteren Angriffsbemühungen trotz Dauerdrucks in der Schlussphase ohne Erfolg. Baumgartner vergab die Großchance in der fünften Minute der Nachspielzeit, als Günok eine unglaubliche Parade zeigte und den Kopfballaufsetzer aus wenigen Metern um den Pfosten lenkte. Gregoritsch, der den Türken am Magenta-Mikrofon Respekt zollte und zum Weiterkommen gratulierte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das war eine der besten Paraden, die ich jemals live gesehen habe. Das war unglaublich, den Ball so zu halten.“
Für Türkei-Kapitän Kaan Ayhan war es insgesamt „ein bisschen zu viel Spannung“. Damit spielte er auf die Schlussminuten an, in der fast nur noch Österreich spielte. Nach dem Abpfiff sei „eine Last abgefallen. Mit Österreich hatten wir mit den stärksten Gegner im Turnier. Das hat man im jeden Moment gespürt“, erklärte Ayhan. Sein Team habe zwar nicht den schönsten Fußball gespielt, „aber unser Herz auf dem Platz gelassen“. Angefeuert durch die wohl frenetischsten Fans bei dieser EM, die sich jetzt sicher auf Berlin freuen, wo ihre Lieblinge bei diesem Turnier bisher noch nicht aufliefen.
dpa/dtj