Gesellschaft
Polarisierende WM hinterlässt in Katar schon jetzt tiefe Spuren
Eine Halbinsel, etwa viermal so groß wie das Saarland. Eine karge Wüste aus Sand, wohin das Auge reicht. Ein Landstrich, zum allergrößten Teil kaum bevölkert. In der globalen Geschichte dieses Planeten ist das Emirat Katar bisher kaum aufgefallen. Vor 100 Jahren lebten hier fast ausschließlich Beduinen. Eine der wichtigsten Einnahmequellen: die Perlenfischerei. Ohne Ausrüstung jagten die Taucher in der Tiefe das kostbare Gut.
Heute steht Katar nicht mehr im Schatten der Geschichte, sondern im Fokus der Weltöffentlichkeit. Wenn am Sonntag die Fußball-WM in dem reichen Emirat angepfiffen wird, kommt es zu mehr als einem Novum. Erstmals wird dieses Turnier in der arabischen Welt ausgetragen. Erstmals wird die WM kurz vor dem Jahreswechsel gespielt. Und selten zuvor stieß ein WM-Gastgeber weltweit auf derart massive Kritik, insbesondere wegen Menschenrechtsverletzungen.
Außerhalb der Stadt fast nur Wüste
Katar, das ist auch die Geschichte des Aufstiegs und der Transformation eines Landes in hoher Geschwindigkeit. Das erste Öl wurde Ende der 1930er-Jahre gefunden. Wirklich Fahrt nahm der Wandel aber erst in den 1990er-Jahren auf. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich das Emirat von einem kargen Flecken zu einem modernen Staat entwickelt, der auf der Weltbühne Einfluss besitzt. Einher ging dieser Prozess mit einem Wandel der Gesellschaft, der anderswo Jahrhunderte gedauert hat. Vom Wüstenzelt in glitzernde Hochhäuser im Rekordtempo. Vom bescheidenen Beduinen zum reichen Scheich im Schnellverfahren.
Katars beduinisches Erbe ist noch überall im Land zu sehen und zu spüren. Wer die Hauptstadt Doha verlässt, landet sofort in der Wüste. Die Liebe zur traditionellen Falkenjagd haben sich die Katarer bis heute erhalten. Jahrhundertealte Traditionen zeigen sich auch in konservativen Familienstrukturen – nicht zuletzt in der Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen, die für viele Lebensentscheidungen die Zustimmung eines männlichen Vormunds brauchen, wie Menschenrechtler beklagen. In der Ablehnung von Homosexualität oder Liebesbekundungen wie Küsse in der Öffentlichkeit spiegelt sich eine Lesart des Islam wider, die am Golf – nicht nur in Katar – seit Jahrhunderten gilt.
Weltoffenheit und Tradition
Der Zeit der Beduinen entspringt auch eine Gastfreundlichkeit, die Besucher herzlich begrüßt und bewirtet. Ein Kaffee, gereicht in kleinen Tassen, frisch eingegossen, gehört in jedem Madschlis – einer Art Wohnzimmer für die Männer im Privathaus – zum Standard. Für ihre Gäste lassen die Katarer auch den Esstisch gern üppig decken.
Doch der Wandel hinterlässt in Katars Gesellschaft tiefe Spuren. Vor allem die junge Generation wendet den Blick stark gen Westen, nach Europa, insbesondere aber in die USA. Gewachsen seien in den vergangenen Jahren die Spannungen „zwischen traditionell islamisch geprägten und progressiven, dem Westen gegenüber aufgeschlossenen Bevölkerungsgruppen“, schreibt der Politikwissenschaftler Nicolas Fromm in seinem gerade erschienen Länderporträt. In Katar habe sich eine „islamische Moderne herausgebildet, die zwischen Religion und Geschäft, Konservatismus und Weltoffenheit zu vermitteln sucht“.
Liberaler als die Saudis
Selbst Menschenrechtsorganisationen räumen ein, dass das Land bei den Frauenrechten einige Fortschritte erzielt hat. So gebe es in dem Land mehr weibliche als männliche Hochschulabsolventen. Viele Frauen seien Unternehmerinnen, Ärztinnen oder Anwältinnen.
Anders als der große Nachbar Saudi-Arabien legt das Emirat auch einige traditionelle Regeln des Islam liberaler aus. Alkohol etwa ist für Ausländer erlaubt, darf jedoch nur in Hotels und einem einzigen Geschäft in Doha verkauft werden. Bei der WM wird es in den Fanzonen Bier, Wein und mehr geben. Auch im Umkreis der Stadien soll Alkohol ausgeschenkt werden, in den Arenen selbst nicht. Ein Kompromiss, der zwei Welten zusammenbringen soll.
Wenige Katarer in Katar
Überhaupt hoffen die Katarer, sich als glänzender Gastgeber für Fans aus aller Welt präsentieren zu können. Wobei: Die allermeisten Besucher werden wenig bis keinen Kontakt zu Katarern haben – eine Folge der gesellschaftlichen Strukturen. Knapp drei Millionen Menschen leben in dem Emirat, doch nur rund zehn Prozent haben einen einheimischen Pass.
Der Rest sind Arbeitsmigranten, nur auf Zeit in Katar, ohne Aussicht auf eine Staatsbürgerschaft. Im täglichen Leben prägen sie das Bild: Egal ob das Servicepersonal im Hotel, Taxifahrer oder die Bedienung im Restaurant – überall sind Ausländer im Einsatz. Sie kommen aus Asien, Afrika, der arabischen Welt, aber auch aus europäischen Staaten.
Auch deswegen könnte die WM einen gegenteiligen Effekt haben: Wenn Katar nicht als freundlicher Gastgeber wahrgenommen wird, sondern als Land, das sich mit seinem Reichtum aus Öl und Gas von Migranten bedienen lässt. Dann könnte sich in Deutschland und anderen westlichen Ländern das verfestigen, was Buchautor Fromm das „Klischee des schwerreichen Ölscheichs“ nennt.
Kritik an Deutschland: „Kolonialistische Perspektive“
Der Politikwissenschaftler setzt sich in seinem Buch kritisch mit Katar auseinander, macht aber in manchem Bericht in Deutschland über das Emirat „Anzeichen einer latent (neo-) kolonialistischen Perspektive aus“, wie er schreibt.
Verantwortlichen in Katar schwant immer mehr, dass Katars Plan zumindest beim Publikum im Westen nicht aufgeht. Zuletzt waren aus dem Emirat schärfere Töne zu hören, die eine gewisse Enttäuschung verraten. Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani warf der deutschen Politik kürzlich „Doppelmoral“ vor.
Wandel braucht Zeit
Das ist oft aus Doha zu hören: Dass der Westen laut die Menschenrechte im Emirat kritisiert – aber gern mit dem Land zusammenarbeitet, wenn es um Gaslieferungen, Investitionen oder die Ausreise von Hilfskräften aus Afghanistan geht, wo Katar auch für Deutschland ein wichtiger Helfer war.
WM-Turnierchef Nasser al-Khater sprach in einem Interview des in Doha ansässigen Nachrichtenkanals Al-Dschasira von einer „bösartigen Kampagne“, die mit der WM-Vergabe an das Emirat begonnen habe. Hinter mancher Kritik steckten „politische Ziele“ oder „Rassismus“. Wandel und Reformen, die in Katar längst begonnen hätten, bräuchten Zeit.
Auch in diesem Punkt schreibt das kleine Emirat Katar Geschichte: Wohl selten, vielleicht nie war eine Fußball-Weltmeisterschaft derart politisiert.
dpa/dtj