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Panorama

Anschlag in Istanbul: Viele Fragen bleiben offen, Erinnerungen an 2015 werden wach

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Der Tag nach dem Anschlag im Zentrum Istanbuls mit sechs Toten stand ganz im Zeichen der Aufklärung. Für die türkische Polizei und das Innenministerium scheint der Fall klar. Experten sehen das Vorgehen der Regierung kritisch.

Die Ermittlungen zum Anschlag mit sechs Toten in Istanbul haben gerade erst begonnen, doch für die türkische Polizei schien der Fall am Montag bereits klar. Sie veröffentlichte Fotos einer verängstigt wirkenden Frau in Handschellen sowie mit Schlappen und einem Pulli mit New-York-Aufschrift. Sie soll die Bombe auf der Einkaufsstraße Istiklal platziert haben. Wenig später habe die Syrerin gestanden, ihren „Befehl“ von der „PKK/YPG/PYD“ bekommen zu haben. Aus Sicht der Türkei sind die syrische Kurdenmiliz YPG und deren politischer Arm PYD Ableger der PKK und ebenfalls Terrororganisationen. Beide dementierten am Montag jegliche Verantwortung für den Anschlag mit sechs Toten und 81 Verletzten, von denen die allermeisten mittlerweile das Krankenhaus wieder verlassen konnten. Die Zahl der festgenommenen Menschen stieg am Dienstag laut Justizminister Bekir Bozdağ zudem auf 50 an.

Dass die Lesart der türkischen Regierung lange die einzige Darstellung der Ereignisse ist, die Menschen in der Türkei zu lesen und zu hören bekommen, liegt zum Beispiel an einer schnell verhängten Nachrichtensperre für Medien im Land. Laut offizieller Darstellung wurde die Nachrichtensperre zu Verhinderung von Angst und Panik verhängt. User von Sozialen Medien beklagten, dass das einen gegenteiligen Effekt gehabt habe. Ausnahmen wurden nur für offizielle Mitteilungen gemacht.

Blitzschnell Internet gedrosselt oder gesperrt

Kurz nach dem Attentat laden zudem Social-Media-Seiten wie Instagram oder Twitter langsam oder nur mit Hilfe eines VPNs. „Die Bandbreitenbeschränkung wurde vom Präsidenten der Türkei angeordnet und vom Leiter der Telekommunikationsbehörde (BTK) durchgeführt“, so der Cyberrechtsaktivist Yaman Akdeniz. Der gesamte Prozess sei geheim und unterliege keiner richterlichen oder gerichtlichen Genehmigung.

„Es ist ein autoritäres Regime“, sagte Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabancı Universität in Istanbul, „es stützt sich auf ein Black-Out der Medien, wenn man Gefahr läuft, scharfe Kritik zu kassieren.“

Innenminister attackiert die USA, Erdoğan trifft Biden

Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, sagte Berkay Mandıracı von der International Crisis Group. Ein Vorhaben, das Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Mitte des Jahres ankündigt. Ankara geht regelmäßig gegen alle drei Gruppierungen militärisch vor, in der Südosttürkei, dem Nordirak und in Nordsyrien.

Mit der Unterstützung für die YPG etwa hatte Ankara auch das Veto für die NATO-Norderweiterung um Schweden und Finnland begründet. Die USA wiederum sehen die YPG im syrischen Bürgerkrieg als Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Innenminister Süleyman Soylu warf Washington erneut vor, „Terrororganisationen“ zu unterstützen. Er lehnte Beileidsbekundungen aus Botschaft und Konsulat ab. Erdoğan hingegen traf sich am Dienstag in Indonesien mit Joe Biden, wo beide am G20-Gipfel teilnehmen, und nahm dessen Beileidsbekundung an.

Vielleicht doch IS?

Mandıracı sagte, es bleibe abzuwarten, ob die türkischen Ermittlungen weitere Beweise für die Behauptung einer Schuld der PKK/YPG aufdeckten. Die Terrormiliz Islamischer Staat oder das Terrornetzwerk Al-Kaida und Sympathisanten dieser Gruppen sollten noch nicht als potenzielle Täter ausgeschlossen werden. In der Türkei gebe es Schätzungen zufolge Tausende von IS-verbundenen Personen, sowohl türkische Staatsbürger als auch Ausländer, die aus Syrien und dem Irak eingereist sind. „Der Istiklal-Angriff spiegelt in Bezug auf Verhalten und Ziel frühere Angriffe des IS mit Blick auf Methode und Ziel in der Türkei in den Jahren 2015/2016 wider.“

Das Attentat zeige in jedem Fall eine deutliche Sicherheitslücke, so der Politikwissenschaftler Esen. Laut Polizei ist die Hauptverdächtige illegal aus dem Norden Syriens in die Türkei und Hunderte Kilometer in die Metropole am Bosporus gereist. Sie habe auf einer stark überwachten Straße eine Bombe deponieren und zünden können. Das werfe ein schlechtes Licht auf die Regierung und besonders das Innenministerium, so Esen. Merkwürdig ist auch, dass sie nach der Tat nicht versucht hat, das Land zu verlassen, sondern in ihre Wohnung zurückkehrte.

Erinnerungen an schlimmes Jahr 2015

Menschen in der Türkei fühlten sich mit dem Attentat auch erinnert an die Ereignisse im Jahr 2015, als eine Reihe von Anschlägen mit vielen Toten das Land erschütterte. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Erdoğan die Situation damals für sich nutzen. Eine kurz zuvor verlorene Mehrheit konnte sie damals wiedererringen. Auch das nährt derzeit Spekulationen in der Türkei.

Denen will sich Esen nicht anschließen. Die Situation könne sich auch ins Gegenteil verkehren, etwa wenn die Opposition eben die Versäumnisse der Regierung für sich nutzen könne. In der Türkei soll im kommenden Juni gewählt werden.

dpa/dtj

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