Menschenrechte

Seltener Teilerfolg gegen Straflosigkeit: Türkei verurteilt Folter

  • Juni 1, 2025
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Seltener Teilerfolg gegen Straflosigkeit: Türkei verurteilt Folter

In einem aufsehenerregenden Urteil hat das türkische Verfassungsgericht dem Lehrer Zabit Kişi teilweise Recht gegeben, der 2017 vom Geheimdienst MIT aus Kasachstan verschleppt und anschließend schwer gefoltert worden war. Das Gericht erkannte Verfahrensmängel bei den Ermittlungen an und verurteilte den Staat zu Schadensersatz – ein seltener Erfolg gegen die systematische Straflosigkeit bei Folterfällen in der Türkei.

In einer ungewöhnlichen Entscheidung hat das Verfassungsgericht der Türkei einem Lehrer teilweise Recht gegeben, der aufgrund eines Urteils vom Juni 2019 eine langjährige Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2017 hatte der Geheimdienst MIT Zabit Kişi mittels einer als Privatflugzeug getarnten Maschine aus Kasachstan entführt. Anschließend wurde er 108 Tage lang an einem nicht näher identifizierten Ort festgehalten und gefoltert. Danach wurde er auf einem Gerichtsparkplatz in Ankara Polizeibeamten der Anti-Terror-Abteilung (TEM) übergeben.

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara beschuldigte ihn, in den versuchten Militärputsch der „Fethullahistischen Terrororganisation“ (FETÖ) vom 15. Juli 2016 involviert gewesen zu sein. Kişi soll eine Kontaktperson zu Putschisten aus dem Bereich der Marine gewesen sein. Er war einer von 86 Angeklagten, denen von 2018 an in Kocaeli ein Prozess gemacht wurde. Kişi gab an, aufgrund der Folter ein Geständnis abgelegt zu haben. Tatsächlich habe er noch nie in seinem Leben einen Admiral gesehen. Der einzige Grund, warum gegen ihn vorgegangen werde, sei, dass er an einer Schule der Gülen-Bewegung gelehrt habe.

Behörden sprechen von freiwilligem Erscheinen vor der Polizei – Verfassungsgericht hat Zweifel

Die Behörden hatten zuvor behauptet, Kişi habe sich freiwillig der Justiz gestellt. Er habe von einer Regelung Gebrauch machen wollen, die reuigen Angehörigen der angeblichen „Terrororganisation FETÖ“ Straferleichterung ermögliche. Im Gegenzug müssten sie gegen Mitwisser aussagen und ihr gesamtes Wissen um die Gemeinschaft preisgeben.

Nun hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die von Kişi erhobenen Vorwürfe nicht angemessen, objektiv und gründlich genug untersucht worden seien. Der Staat sei verpflichtet, Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zu prüfen. Im vorliegenden Fall gebe es schwerwiegende Vorwürfe und zumindest Indizien für Übertretungen von Verfahrensvorschriften.

In der Entscheidung, über die türkische Oppositionsmedien erstmals am 28. Mai berichteten, wurde festgestellt, dass das Verbot der Misshandlung in Bezug auf die „verfahrensrechtliche Dimension“ verletzt wurde. Der türkische Staat wurde verurteilt, Kişi Schadensersatz in Höhe von 190.000 TL (etwa 4.300 Euro) zu bezahlen und die Vorwürfe erneut zu untersuchen.

108 Tage Haft und Folter an unbekanntem Ort

Bereits 2019 hatte Kişi die schweren Verletzungen gegen seine Menschenwürde in detaillierter Weise dokumentiert, die er in seiner Anhaltung durch türkische Behörden erlitten hatte. So soll er 108 Tage lang in einem drei Quadratmeter großen Container ohne Fenster und Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden sein. Seine Familie war in der gesamten Zeit nicht über seinen Verbleib informiert.

Die Rede war von wiederholten Misshandlungen, Stromschlägen, Vergewaltigungsversuchen mit harten Gegenständen, Morddrohungen und Ankündigungen, seiner Familie Schaden zuzufügen. Mit verbundenen Augen sei er nach seinem erzwungenen Geständnis der Polizei in Ankara übergeben worden.

Die Misshandlungen hatten Spuren wie zerquetschte Zehen und gebrochene Rippen hinterlassen. Kişi habe in den drei Monaten seiner Anhaltung 30 Kilogramm an Körpergewicht verloren, was auch Angehörige nach seiner Überstellung in reguläre Haft bestätigen konnten.

Verfassungsgericht beanstandet Mängel in Untersuchung durch Generalstaatsanwaltschaft

Üblicherweise bleiben Beschwerden gegen Folter und unmenschliche Behandlung in polizeilicher oder geheimdienstlicher Anhaltung in der Türkei ohne Konsequenzen. Es gibt keine Zeugen und die Verantwortlichen verstehen es, Spuren zu verwischen. Auch die Generalstaatsanwaltschaft untersuchte den Fall und kam zu dem Schluss, dass es keine ausreichenden Anhaltspunkte gebe, um die Version der Behörden anzuzweifeln.

Allerdings sah das Verfassungsgericht, vor das Kişi zog, eine Reihe von Ungereimtheiten in den Untersuchungsergebnissen. So sei die medizinische Eingangsuntersuchung in der Justizanstalt in Kocaeli, in die er nach den 108 Tagen verbracht worden war, nicht regelkonform durchgeführt worden. Weder sei diese in Abwesenheit von Beamten noch unter vollständiger Entkleidung erfolgt. Zudem wies ein späterer Befund des Krankenhauses von Kocaeli auf körperliche Spuren hin, die mit den Darstellungen Kişis potenziell in Einklang gebracht werden könnten.

Das Verfassungsgericht bemängelte auch, dass einige Zeugen nicht gehört worden seien – unter anderem ein Beamter und ein späterer Mitangeklagter, der mit Kişi zusammen aus Kasachstan verschleppt worden war. Auch gebe es keine Belege wie Flugtickets, die darauf hinwiesen, dass der Beschwerdeführer freiwillig in die Türkei eingereist sei. Auch zeige der Reisepass keinen legalen Einreisestempel in die Türkei. Die von der Generalstaatsanwaltschaft durchgeführten Ermittlungen seien „nicht von der Wirksamkeit, Tiefe und Strenge“ gewesen, die geboten gewesen wären, um Vorwürfen des Folterverbots nach Artikel 17 der Verfassung angemessen nachzugehen.

Kleiner Teilerfolg – auch bedingt durch zähen Einsatz eines Abgeordneten

Lediglich bezüglich der Zwangsinhaftierung wies das Verfassungsgericht die Beschwerde zurück. Allerdings hatte dies formale Gründe. So habe Kişi nicht alle erforderlichen Rechtsmittel auf unterer Ebene gegen die Maßnahme ausgeschöpft, die einer Beschwerde an das Verfassungsgericht vorangehen müssten.

Eine Wende im Umgang mit verfolgten Mitgliedern der Gülen-Bewegung in der Türkei ist von dem Urteil nicht zu erwarten. Auch wird es voraussichtlich zu keiner Aufhebung seiner Verurteilung führen. Allerdings ist es ein kleiner Teilerfolg gegen staatliche Willkür. Es ist davon auszugehen, dass die zahlreichen parlamentarischen Initiativen des DEM-Abgeordneten für Kocaeli in der Großen Nationalversammlung, Ömer Faruk Gergerlioğlu, zu diesem Fall für Druck gesorgt hatten. Er hatte das Thema wiederholt auf die öffentliche Tagesordnung gebracht – und sich auch in anderen Fällen für Rechte von Inhaftierten und gegen Justizwillkür eingesetzt.

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