Sorge um Sırrı Süreyya Önder: Beliebter türkischer Politiker weiter in Lebensgefahr

Archivfoto: Sırrı Süreyya Önder gibt bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2023 seine Stimme ab. Foto: privat
Der gesundheitliche Zustand des türkischen Politikers Sırrı Süreyya Önder bewegt derzeit politische Lager in der gesamten Türkei. Der 61-jährige DEM-Abgeordnete und stellvertretende Parlamentspräsident kämpft nach einem schweren Herzinfarkt um seine Genesung. Er gilt als Schlüsselfigur für einen möglichen neuen Friedensprozess mit der Kurdenbewegung.
Die Türkei sorgt sich derzeit um den Gesundheitszustand eines ihrer profiliertesten Politiker. Sırrı Süreyya Önder, der seit 2023 stellvertretender Präsident der Großen Nationalversammlung ist, erlitt am Dienstagabend einen Herzinfarkt erlitten. Nach einer Notoperation befindet sich Önder nach wie vor im Florence-Nightingale-Krankenhaus in Istanbul.
Wegen eines Risses in der Aorta musste er für 12 Stunden notoperiert werden. Die Ärzte kündigten an, ihn für die Dauer von fünf Tagen sedieren zu wollen. Den jüngsten Informationen zufolge ist sein Gesundheitszustand stabil, Entwarnung könne aber noch nicht gegeben werden. Er befindet sich nach wie vor auf der Intensivstation und in Lebensgefahr.
Politik über Parteigrenzen hinweg vereint im Mitgefühl für Önder und seine Familie
Zu den ersten Besuchern, die sich im Krankenhaus über den Gesundheitszustand Önders erkundigten, gehörte am Mittwoch der frühere CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu. Ebenfalls an diesem Tag anwesend waren die Co-Vorsitzenden der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan. Kılıçdaroğlu würdigte im Anschluss an den Besuch Önder vor der Klinik als einen Parlamentarier mit „Sinn für Humor, der die Menschen zum Lächeln bringt“.
Genesungswünsche kamen aber auch aus der diametral entgegengesetzten Richtung des politischen Spektrums. Der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Önder „mit der Hilfe Gottes, der Unterstützung unserer Ärzte und seiner eigenen Widerstandskraft diese schweren Tage überwinden“ könne. Er erklärte, dass „wir noch viel mehr tun können, um eine terrorfreie Türkei zu erreichen“.
Sırrı Süreyya Önder ist einer der wenigen Politiker der Türkei, die es stets geschafft haben, durch die Integrität ihrer Persönlichkeit über die Parteigrenzen hinweg respektiert zu werden. Bevor er 2011 erstmals als unabhängiger Kandidat ins Parlament gewählt wurde, war er als Regisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und Journalist bekannt geworden.
Vom politischen Gefangenen zum Parlamentsvizepräsidenten
Önder kam 1962 in Adıyaman als Kind einer turkmenischen Familie zur Welt. Sein Vater, Ziya Önder, war Mitbegründer und Vorsitzender der Türkiye İşçi Partisi (Arbeiterpartei der Türkei) in seiner Heimatprovinz. Dieser starb früh, Sırrı musste die Familie durch Gelegenheitsjobs unterstützen.
Im Jahr 1978 wurde Önder erstmals verhaftet, weil er gegen das Massaker an Aleviten in Kahramanmaraş protestierte. Sein Studium der Politikwissenschaften an der Universität Ankara musste er infolge des Militärputschs von 1980 unterbrechen. Im Zuge der damaligen Verfolgung politisch unliebsamer Personen wurde Önder zu 12 Jahren Haft verurteilt. Sieben Jahre davon musste er verbüßen – in den Gefängnissen Mamak, Ulucanlar and Haymana in Ankara.
Der zu diesem Zeitpunkt junge Erwachsene wurde dort gefoltert und beteiligte sich an Hungerstreiks. Nach seiner Freilassung arbeitete er in weiteren Gelegenheitsjobs, bevor er sich eine Karriere in Film und Journalismus aufbaute. Sein erster Film „Beynelmilel“ (Die Internationale) wurde 2006 zu einem enormen Publikumserfolg. Er handelte von einer Musikergruppe in der Putsch-Ära von 1980. Als Schauspieler wirkte er zwischen 2006 und 2013 in weiteren Filmen mit und schrieb unter anderem für die Zeitungen „BirGün“ und „Radikal“.
Seit 2011 in der Großen Nationalversammlung
Seine Parlamentskandidatur 2011 wurde von der prokurdischen BDP unterstützt, dieser trat Önder auch bei. Im Jahr 2014 kandidierte er als Kandidat der HDP für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul. In einem stark zwischen den Bewerbern von AKP und CHP polarisierten Wahlkampf erreichte er mit 4,7 Prozent Platz 3.
Bei den Wahlen 2015, 2018 und 2023 wurde er wieder in die Große Nationalversammlung gewählt. Nun vertritt er dort die DEM-Partei und ist einer der stellvertretenden Parlamentspräsidenten.
Von besonderer Bedeutung ist sein Engagement für die kurdische Gemeinschaft in der Türkei. Während des kurzlebigen Versöhnungsprozesses im Jahr 2013 war Önder Teil der „İmralı-Delegation“. Diese war befugt, den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel zu besuchen. Während des Newroz-Fests verlas die Delegation dessen Botschaft.
Önder als zentrale Figur im kurdisch-türkischen Friedensprozess
Im Jahr 2015 brach der Friedensprozess zusammen. Die Gründe dafür waren vielfältig. Auf der einen Seite sah Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einem innenpolitischen Schulterschluss mit den Ultranationalisten eine Chance, seine Mehrheit zu verteidigen. Diesen musste man jedoch den Friedensprozess opfern. Aber auch die PKK zeigte keine Friedensbereitschaft – und der Umstand, dass ihr syrischer Ableger PYD die Rückendeckung der USA im dortigen Bürgerkrieg hatte, verlieh ihr zusätzliche Stärke.
Drei Jahre später stand Önder wegen der Verlesung einer Botschaft Öcalans vor Gericht. Dieses verurteilte ihn zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft, 2019 sorgte das Verfassungsgericht für die Aufhebung des Urteils.
Mittlerweile sind seine Vermittlungsdienste wieder gefragt. Öcalan hatte nach einer Initiative von MHP-Chef Devlet Bahçeli – für Freund und Feind überraschend – am 27. Februar ein Ende seines terroristischen Kampfes und eine Auflösung der PKK verkündet. Der Konflikt hat seit 1984 mehr als 45.000 Todesopfer gefordert. Im Vorfeld hatte Önder im April 2024 ein Gespräch mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan geführt, in dem es um eine politische Annäherung und die Institutionalisierung des Dialogs ging.
Neue Gespräche mit Erdoğan: Historische Chance oder politisches Kalkül?
Im Dezember 2024 bildete Önder zusammen mit der Kurdenpolitikerin Pervin Buldan eine Delegation der DEM-Partei, die erstmals seit 2015 wieder auf İmralı Öcalan besuchte. Ziel der Initiative war es, Möglichkeiten zur Wiederbelebung des Friedensprozesses zu suchen. Önder reiste in den vergangenen Monaten durch die Türkei, um für eine Wiederaufnahme der Gespräche zu werben. Er sprach von einer „historischen Chance“ für einen neuen Verhandlungsprozess.
Einen Durchbruch gibt es noch nicht. Erdoğan beharrt weiterhin auf einer „bedingungslosen Kapitulation“ der PKK. Allerdings könnte er zu Zugeständnissen im Friedensprozess bereit sein, wenn die DEM im Gegenzug eine parlamentarische Anpassung der Verfassung mitträgt. Auf diese Weise könnte Erdoğan möglicherweise seine Amtszeitbegrenzung umgehen und ein weiteres Mal kandidieren. Außerdem sieht sich Erdoğan als Sieger in Syrien. Um seinen Einfluss zu behalten, benötigt er allerdings Ruhe an allen syrischen Fronten. Deshalb könnte er an einer Koexistenz mit der Kurdenbewegung in der Türkei und an einer Verständigung zwischen der neuen syrischen Führung und den dortigen Kurden interessiert sein. Vor allem aber wäre eine Annäherung an die DEM ein vielversprechender Versuch, erneut die Opposition zu spalten.