TikTok als Rekrutierungsmaschine: Wie radikale Gruppen die Plattform für sich entdecken

TikTok ist längst mehr als eine Spielwiese für virale Tänze und Lifehacks. Die Videoplattform hat sich in den vergangenen Jahren zu einem mächtigen Kommunikationsmittel entwickelt – nicht nur für Influencer, sondern auch für extremistische Akteure. Rechtsextreme, islamistische Prediger und andere radikale Gruppen nutzen TikTok strategisch, um junge Menschen zu beeinflussen, zu radikalisieren – und zu mobilisieren.
Der Fall des islamistischen TikTok-Stars „Abdelhamid“ zeigt, wie wirkungsvoll diese Inszenierung funktioniert. Mit kumpelhaftem Ton, Jogginghose und Sporttrikot inszenierte sich der 34-Jährige als nahbarer Ratgeber für Fragen rund um Religion und Lebensführung. Doch hinter der populären Fassade verbarg sich laut Verfassungsschutz ein klar extremistisches Weltbild. Seine Inhalte seien salafistisch, demokratiefeindlich und teilweise verfassungswidrig gewesen – verpackt in ein Format, das Jugendliche nicht nur anspricht, sondern emotional bindet.
Mit über zehn Millionen Likes auf TikTok wurde er zur zentralen Figur in der digitalen islamistischen Szene Deutschlands. Seit Kurzem steht er in Düsseldorf wegen Spendenbetrugs vor Gericht. Nicht etwa wegen seiner radikalen Inhalte – sondern weil er laut Anklage rund eine halbe Million Euro an Spendengeldern für vermeintlich humanitäre Zwecke eingesammelt, aber größtenteils für Luxusartikel, Bargeld und Fluchtvorbereitungen ins Ausland verwendet haben soll.
Religiöser Extremismus mit moderner Ästhetik
Ein weiteres Beispiel aus der salafistischen Szene ist der inzwischen verbotene Prediger Ahmad A., der unter wechselnden Pseudonymen Videos mit religiösen Appellen, Missionsaufrufen und verschwörungsideologischen Inhalten veröffentlichte. In seinen TikToks inszenierte er sich als „Stimme der Wahrheit“ gegen den Westen und erreichte damit insbesondere junge Muslime mit migrantischem Hintergrund, die sich gesellschaftlich nicht zugehörig fühlen. Die Behörden warnen: Gerade solche Figuren wirken als Türöffner in die salafistische Szene.
Rechtsextreme nutzen Memes, Fitness und Patriotismus
Doch auch am anderen Ende des Spektrums wird TikTok gezielt zur Verbreitung von Ideologien genutzt. Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner, Kopf der sogenannten „Identitären Bewegung“, ist zwar offiziell auf TikTok gesperrt – dennoch tauchen regelmäßig neu bearbeitete Clips von ihm auf, die von Unterstützern erneut hochgeladen werden. In seinen Aufrufen spricht er von „Bevölkerungsaustausch“, „Widerstand gegen Globalisten“ und ruft zu einem „ethnischen Erwachen“ auf – alles in jugendaffiner Bildsprache, unterlegt mit Musik und Memes.
Auch aus der jüngeren deutschen rechtsextremen Szene sind Profile bekannt, die mit Parolen wie „Heimatliebe ist kein Verbrechen“ oder „Remigration jetzt“ auftreten – teils versteckt hinter Fitness- oder Mode-Content. Die Inhalte sind oft professionell geschnitten, visuell ansprechend und mit popkulturellen Anspielungen versehen – das macht sie für junge Nutzer besonders anschlussfähig.
Der Algorithmus als Verstärker ideologischer Inhalte
Unabhängig von der ideologischen Richtung zeigt sich bei beiden Szenen ein gemeinsames Muster: Die Verknüpfung populärkultureller Elemente mit ideologischer Aufladung. TikToks Funktionsweise – kurze Clips, personalisierte For-You-Feeds, Likes und Kommentare als Verstärker – schafft ein ideales Umfeld für suggestive Inhalte. Emotionale Erzählungen, einfache Wahrheiten und ein klarer Freund-Feind-Dualismus entfalten auf dieser Plattform eine besondere Wirkmacht.
Die Sprache ist niedrigschwellig, die Ästhetik modern, die Botschaft eindeutig. Wer sich davon angesprochen fühlt, bekommt automatisch ähnliche Inhalte geliefert – und rutscht schleichend in eine radikale Filterblase.
Plattformbetreiber kämpfen mit Dynamik und Verschleierung
Die Plattformbetreiber stehen unter Druck. Zwar verweist TikTok regelmäßig auf seine Community-Richtlinien und darauf, Inhalte mit extremistischen Inhalten zu löschen. Doch viele Videos bewegen sich in Graubereichen oder werden durch ironische Verpackung und Codes bewusst verschleiert. Dazu kommt, dass viele Clips schnell viral gehen und sich kopieren lassen, bevor sie gemeldet oder gelöscht werden können. Die Reaktionsgeschwindigkeit der Moderation kann mit der Dynamik kaum Schritt halten.
Radikale Influencer sprechen gezielt gefährdete Jugendliche an
Besonders alarmierend ist, dass die Zielgruppe häufig minderjährig ist – oft bildungsfern, orientierungslos oder sozial isoliert. Für diese Jugendlichen werden TikToker wie „Abdelhamid“ oder rechte Influencer zu Identifikationsfiguren. Sie geben einfache Antworten auf komplexe Fragen, stiften Gemeinschaft, versprechen Bedeutung. In dieser Mischung liegt das eigentliche Risiko: Nicht nur, dass junge Menschen extremistischen Weltbildern ausgesetzt werden – sondern dass sie sich damit identifizieren, ohne es bewusst zu reflektieren.
Die Herausforderung liegt also nicht nur in der technischen Regulierung, sondern vor allem in der gesellschaftlichen Antwort. Medienbildung, politische Aufklärung und digitale Zivilcourage müssen gestärkt werden, um dem Vormarsch extremistischer Narrative in sozialen Netzwerken entgegenzuwirken. Plattformen wie TikTok dürfen nicht zum Rekrutierungsfeld für Feinde der offenen Gesellschaft werden. Doch genau das droht, wenn der öffentliche Diskurs sich nicht stärker mit dieser Entwicklung auseinandersetzt.