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Türkei: Bahçeli fordert Freilassung von Selahattin Demirtaş – was dahinter steckt

  • November 5, 2025
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Türkei: Bahçeli fordert Freilassung von Selahattin Demirtaş – was dahinter steckt

Kommt Selahattin Demirtaş demnächst frei? Was in der Türkei lange als undenkbar galt, könnte bald passieren.

Selahattin Demirtaş, ehemaliger Co-Vorsitzender der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP (heute DEM), wurde am 4. November 2016 verhaftet und sitzt seitdem in Haft. Ihm werden Terrorvorwürfe gemacht, insbesondere im Zusammenhang mit den landesweiten Kobanê-Protesten vom Oktober 2014, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen. Die türkischen Behörden werfen Demirtaş vor, damals zu Aufruhr beigetragen und die Einheit des Staates untergraben zu haben. In einem umstrittenen Gerichtsverfahren wurde er 2024 zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt. Menschenrechtsorganisationen und die Opposition betrachten seine Inhaftierung als politisch motiviert. Nun könnte es eine Wende geben.

Bekannt ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Inhaftierung Demirtaş’ mehrfach scharf kritisiert hat. Bereits 2018 und erneut 2020 stellte das Gericht fest, dass die Untersuchungshaft gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Am 8. Juli 2025 urteilte der EGMR schließlich, Demirtaş werde aus politischen Gründen festgehalten, und forderte seine unverzügliche Freilassung. Die Türkei versuchte vergeblich, dieses Urteil vor der Großen Kammer anzufechten – am 3. November wies das Gericht den Einspruch Ankaras zurück. Das Urteil ist damit rechtskräftig und völkerrechtlich bindend.

Bahçelis überraschender Kurswechsel

Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsextremen MHP und enger Verbündeter von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, galt bislang als Hardliner in der Kurdenfrage. Seine Partei lehnte jede Form von Dialog mit der PKK, der HDP und auch der DEM konsequent ab. In der Vergangenheit hatte er sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel gebracht und ein Verbot der HDP gefordert.

Umso überraschender war Bahçelis Kurswechsel im Oktober 2024, als er vorschlug, Abdullah Öcalan im Parlament sprechen zu lassen, um das Ende des bewaffneten Kampfes der PKK zu verkünden. Er stellte dabei sogar eine Haftmilderung für Öcalan in Aussicht, sollte es zur Selbstauflösung der PKK kommen – eine Position, die zuvor undenkbar schien.

Im Mai 2025 verkündete die PKK nach ihrem Parteikongress offiziell die Niederlegung der Waffen und ihre Selbstauflösung. Ende Oktober folgte die Bekanntgabe, dass sich alle Kämpfer aus der Türkei zurückgezogen hätten. Bahçeli begrüßte diese Schritte als „historische Zäsur“ und betonte den positiven Einfluss von Öcalans Erklärung. Beobachter werteten diese Entwicklung als Wendepunkt in einem Jahrzehnte andauernden Konflikt, der Tausende Opfer gefordert hatte.

Wie nachhaltig ist der Wandel?

Am 4. November 2025 äußerte sich Bahçeli gegenüber Journalisten zur aktuellen EGMR-Entscheidung. Dabei erklärte er, Demirtaş habe „auf rechtlichen Wegen ein Ergebnis erzielt“, und dessen Freilassung werde der Türkei zum Guten gereichen. Mit dieser Aussage gab Bahçeli erstmals öffentlich seine Zustimmung zur Entlassung eines politischen Gegenspielers, dessen Inhaftierung er zuvor stets verteidigt hatte.

Die Äußerungen Bahçelis fielen mit einer Welle von Forderungen aus der Opposition zusammen. Sowohl die DEM-Partei als auch die CHP drängten nach dem rechtskräftigen Gerichtsurteil auf eine sofortige Freilassung von Demirtaş. Präsident Erdoğan äußerte sich bislang nicht konkret, während Regierungsvertreter betonten, dass die Koalition mit der MHP weiterhin Bestand habe.

Auch wenn Bahçelis Kommentar nicht automatisch zu einer politischen Kursänderung führt, deutet vieles auf eine mögliche Neujustierung im Umgang mit den Kurden hin. Während Kritiker vor überzogener Hoffnung warnen, betrachten andere seine Äußerung als Indikator dafür, dass sich die politischen Realitäten in der Türkei verschieben – zumindest temporär. Wie nachhaltig und glaubwürdig dieser Wandel ist, bleibt jedoch abzuwarten.

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