Warum eine Rassismus-Definition für die Verwaltung unerlässlich ist

Nach über eineinhalb Jahren intensiver Arbeit liegt sie nun vor: die Arbeitsdefinition von Rassismus. Sie soll Verwaltungen helfen, Rassismus besser zu erkennen und zu bekämpfen. Doch warum ist eine einheitliche Definition so wichtig? Welche Herausforderungen gab es in der Erarbeitung? Yasemin Karakaşoğlu liefert Antworten.
Rassismus ist kein Randphänomen, sondern tief in gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen verankert – auch in der Verwaltung. Doch bislang fehlte eine einheitliche Definition, die als Orientierung für den Umgang mit rassistischer Diskriminierung dienen kann. In einem mehr als eineinhalb Jahre dauernden Prozess haben Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis eine Arbeitsdefinition erarbeitet, die sowohl den aktuellen wissenschaftlichen Stand widerspiegelt als auch praxisnah und verständlich ist.
Die Definition soll Verwaltungen helfen, Rassismus zu erkennen, Diskriminierung vorzubeugen und bestehende Ungleichheiten aktiv zu bekämpfen. Doch wie lief der Erarbeitungsprozess ab? Welche Herausforderungen mussten überwunden werden? Und wie kann sichergestellt werden, dass die Definition tatsächlich in den Behörden ankommt? Ein Gespräch über die Bedeutung klarer Begriffe, politischen Willen und die Verantwortung staatlicher Institutionen.
Frau Karakaşoğlu, die Arbeitsdefinition von Rassismus wurde in einem lang andauernden Prozess entwickelt. Welche zentralen Herausforderungen sind Ihnen und den anderen Expertinnen und Experten dabei begegnet? Gab es kontroverse Diskussionen innerhalb der Gruppe?
Die Arbeitsdefinition reagiert auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Erfordernisse. Und sie ist Teil eines politischen Prozesses, in dem die Bundesregierung eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Konzept Rassismus und seiner Bekämpfung in Gang gesetzt hat. Sie zu erstellen, musste den Anspruch erfüllen, sowohl den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstand zu individuellem, strukturellem und institutionellem Rassismus zu spiegeln, also den wissenschaftlichen State of the Art, wie auch der Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas gerecht zu werden.
Vor allem war es wichtig, in den Formulierungen klar und verständlich und so praxisorientiert wie möglich zu sein. Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Expert*innenrats aus Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, die mit unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung vertraut sind, war dafür eine wichtige Voraussetzung.
Wie lief die Erarbeitung der Definition ab?
Besonders wertvoll waren die Rückmeldungen zur Arbeitsdefinition von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der Verwaltung auf Bundesebene. Kontroverse Diskussionen ergaben sich zur Struktur und Länge des Textes. Wir haben hier sehr um Formulierungen und hervorzuhebende Aspekte in unseren Diskussionen gerungen, aber es waren immer sehr fruchtbare Diskussionen. Das Ergebnis ist ein guter Konsens.
Gab es vorher keine Klarheit darüber, was unter Rassismus zu verstehen ist?
Die Verwaltung ist rechtlich verpflichtet, alle Bürger*innen diskriminierungsfrei zu behandeln. Staatliche Akteure dürfen selbst keine Diskriminierungen vornehmen. Im Gegenteil, sie müssen aktiv werden – das gilt für den Schutz vor Diskriminierung, für die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Prävention von Diskriminierung und zur Bekämpfung bestehender Ungleichheiten.
Welche Rolle nimmt die Verwaltung genau ein?
Die Antidiskriminierung ist eine Regelaufgabe der Verwaltung und natürlich ein Qualitätsmerkmal ihrer Arbeit. Unsere Definition unterstützt sie dabei Professionalität, Rollenklarheit der Mitarbeitenden und Transparenz der Arbeitsvorgänge zu garantieren.
Da aber weder das Grundgesetz noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz definieren, was als Rassismus zu verstehen ist, hat unsere Definition eine dreifache Funktion:
- Sie will Klarheit schaffen über Phänomen und Erscheinungsformen von Rassismus.
- Sie will Klarheit schaffen über den rechtlichen Rahmen des Umgangs mit Rassismus.
- Sie unterstützt beim Verstehen von Rassismus und bei der Anwendung von rechtlichen Vorgaben zur Vermeidung und Bekämpfung von Rassismus. Die konkreten Handlungsempfehlungen, die wir formuliert haben, sind Teil der Antirassismus-Definition.
Die Definition soll nicht verbindlich sein, sondern lediglich als Orientierung dienen. Sehen Sie die Gefahr, dass Verwaltungen sie deshalb nicht konsequent anwenden? Wie kann sichergestellt werden, dass sie dennoch eine echte Wirkung entfaltet?
Unsere Arbeitsdefinition ist ein lebendes Dokument und muss den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden. Aber erst einmal stellt ihre Veröffentlichung durch die Staatsministerin eine Anerkennung der Existenz von individuellem, aber – und das ist besonders wichtig – strukturellem und institutionellem Rassismus als Fakt dar. Als Expert*innengremium können wir nicht verbindlich vorgeben, wonach Verwaltung sich zu richten hat, aber wir können eine Orientierung geben. Es ist an den Verantwortlichen in Politik und Administration, sich diese zeigen zu machen. Und besonders wichtig: Alle können sich auf sie berufen, und antirassistisches Agieren der Verwaltung einfordern.
In der Praxis erleben viele Menschen rassistische Diskriminierung in Behörden.
Richtig, Rassismus zeigt sich in staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen: in der Sprache, in verbreiteten stereotypisierenden Annahmen und darin, dass Ressourcen und Privilegien ungleich verteilt werden. Bestimmte Gruppen werden systematisch benachteiligt und ausgegrenzt.
Das nennt man strukturellen Rassismus. In staatlichen wie in nichtstaatlichen Institutionen kann Rassismus durch rechtliche Vorgaben begünstigt werden und aus organisatorischen Strukturen resultieren. Ein Großteil rassistischer Diskriminierung entsteht oft unbeabsichtigt durch alltägliche Routinen und Handlungslogiken, die als Teil der Kultur einer Organisation etabliert sind und nicht hinterfragt und reflektiert werden. Das versuchen wir zu ändern.
Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie institutioneller oder struktureller Rassismus in deutschen Behörden sichtbar wird?
Die Formen des Rassismus gehen oft fließend ineinander über oder bedingen sich gegenseitig. In Behörden liegt individueller Rassismus vor, wenn eine Sachbearbeiterin im Jobcenter eine Person aufgrund rassistischer Zuschreibungen als ‚unvermittelbar‘ einstuft und dieser Person daraufhin keine Umschulung angeboten wird. Ein prägnantes Beispiel für strukturellen Rassismus ist die mangelnde Repräsentanz von Angehörigen bestimmter Bevölkerungsgruppen in politischen Parteien, Parlamenten, Medien oder im öffentlichen Dienst.
Ein anderes Beispiel für strukturellen Rassismus ist, wenn der Zugang zu einer regulären Schule von Kindern und Jugendlichen rechtlich von der Aufenthalts- und Wohnsituation der Familie abhängig gemacht wird, wie es einige Länderregelungen vorsehen. Von institutionellem Rassismus sprechen wir, wenn Angehörige bestimmter Gruppen durch nicht hinterfragte Einstellungs- oder Beförderungskriterien systematisch benachteiligt werden.
Im Schulbereich zeigt sich institutioneller Rassismus etwa dann, wenn z.B. Kinder von Zugewanderten, die nicht über schulrelevante Deutschkenntnisse verfügen aufgrund mangelnder Fördermaßnahmen im Regelsystem auf Sonderschulen für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen überwiesen werden.
In der Definition wird betont, dass Rassismus auf historischen Kategorisierungen basiert. Worin liegt der Unterschied zwischen rassistischer Diskriminierung und individuellen Vorurteilen?
Individuelle Vorurteile sind sozialpsychologisch erklärt, verzerrte Ansichten und Urteile, die eine Person über Gruppen oder Personen hat aufgrund dieser zugeschriebener oder tatsächlicher Merkmale. Als rassistische Diskriminierung gilt nach der in Deutschland rechtlich bindenden Antirassismuskonvention der Vereinten Nationen:
‚Jede auf der Rasse [sic!], der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, daß dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.‘
Haben Sie bereits Rückmeldungen aus der Verwaltung erhalten? Wie wird die Definition von Beamtinnen und Beamten aufgenommen, insbesondere von denen, die sich selbst nicht als Teil des Problems sehen?
Ich habe im Vorfeld der Veröffentlichung von vielen Verwaltungsverantwortlichen die Botschaft bekommen, dass sie dringend auf die Veröffentlichung der Arbeitsdefinition warten, weil sie sich an ihr orientieren. Die bisherigen Rückmeldungen zum Text sind durchweg positiv. Allerdings gibt es auch die Sorge, dass angesichts des zunehmenden Rechtspopulismus in der Gesellschaft ihre Umsetzung auch schwerer wird. Die Frage, wie diejenigen sie aufnehmen, die sich nicht als Teil des Problems sehen, kann ich noch nicht beantworten.
Die Definition soll Verwaltungen helfen, Rassismus besser zu erkennen. Welche konkreten Schritte sollten Verwaltungen jetzt unternehmen, um antirassistischer zu arbeiten?
Es geht bei Antirassismus in der Verwaltung um einen vorausschauend positiven, aufklärenden und sensibilisierenden Ansatz. Die Handlungsempfehlungen beziehen sich auf konkrete Strategien in Behörden, um Vorgaben und Maßnahmen rechtliche und individuell zu verbinden.
Dazu gehört eine rassismuskritische Professionalisierung der Verwaltungsmitarbeitenden, in der sie lernen, ihre Haltung und ihr Verhalten stetig zu hinterfragen, das gilt insbesondere auch für die Öffentlichkeitsarbeit und die Behördenkommunikation. Aber auch bei Personalentscheidungen und in der Aus- und Fortbildung ist das zentral. Dazu gehört auch die Repräsentanz aller gesellschaftlichen Gruppen im Personal auf allen Ebenen und Positionen in der Verwaltung. Wir brauchen dringend staatliche Institutionen, die zur Bekämpfung von Rassismus nachhaltig auf- und ausgebaut werden.
Die Staatsministerin Reem Alabali-Radovan betont, dass staatliche Institutionen in der Pflicht stehen. Sehen Sie derzeit genügend politischen Willen, um Rassismus in der Verwaltung konsequent zu bekämpfen? Wo gibt es noch Nachholbedarf?
Es wäre natürlich wünschenswert gewesen, und so war es ursprünglich auch geplant, die Arbeitsdefinition als Kabinettsbeschluss zu verabschieden. Das damit verbundene Signal an Politik und Verwaltung wäre besonders stark gewesen.
Ich sehe aber durchaus wichtige Entwicklungen, etwa darin, dass inzwischen in acht von 16 Ländern Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet und Antidiskriminierungsbeauftragte eingesetzt wurden und weitere drei Länder sich auf den Weg dahin gemacht haben. Es gibt mittlerweile einige unabhängige Beschwerdestellen für von Diskriminierung und Rassismus betroffene Menschen in den Behörden wie Polizei, Feuerwehr, Kommunalverwaltungen – und es werden immer mehr. Trotzdem ist noch viel Luft nach oben und wenn ich mir die Entwicklung in den USA anschaue, dann sieht man, wie stark diese Einrichtungen und ihre Fortsetzung von politischen Konjunkturen abhängig sein kann. Das bereitet mir große Sorge.
Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich in den kommenden Jahren im Umgang mit Rassismus in deutschen Verwaltungen? Woran werden wir messen können, ob die Arbeitsdefinition tatsächlich zu positiven Veränderungen geführt hat?
Ich hoffe, dass sich die Verwaltung auf allen Ebenen – Kommune, Länder, Bund – diese Definition zu eigen macht und die Handlungsempfehlungen in Maßnahmenkataloge übersetzt. Die Umsetzung sollte aber auch durch ein regelmäßiges Monitoring nachverfolgt werden.
Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu ist Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen und Mitglied des Expert:innenrates zum Thema Rassismus und Antirassismus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder.