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Selbstmordrate unter Jugendlichen in der Türkei steigt an – Lebenszufriedenheit gering

  • Juni 4, 2025
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Selbstmordrate unter Jugendlichen in der Türkei steigt an – Lebenszufriedenheit gering

Laut einem aktuellen UNICEF-Bericht hat sich die Selbstmordrate unter Jugendlichen in der Türkei zwischen 2018 und 2022 drastisch erhöht. Die Türkei belegt beim allgemeinen Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen Platz 35 von 36 untersuchten Ländern. Experten schlagen Alarm und fordern umfassende Investitionen in psychische Gesundheitsdienste.

Einem jüngst veröffentlichten Bericht von UNICEF zufolge ist die Selbstmordrate unter Jugendlichen zwischen 2018 und 2022 um nicht weniger als 80 Prozent angestiegen. Bezüglich des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen insgesamt lag die Türkei auf Platz 35 unter 36 ausgewerteten Nationen für den „Innocenti Report Card 19: Child Well-Being in an Unpredictable World“.

Nur Chile lag noch dahinter. Insgesamt wollte die Organisation die Daten aus 43 OECD-Ländern auswerten, allerdings hatten sieben davon zu wenig Angaben übermittelt.

Lebenszufriedenheit türkischer Jugendlicher sinkt auf historischen Tiefstand

Zwar liegt die Türkei insgesamt mit einer Selbstmordrate von 4,5 unter 100.000 Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren noch besser dar als der Durchschnitt. Mit 1,0 hat Zypern die wenigsten Jugendsuizide zu beklagen. Deutschland liegt mit 4,1 einen Platz besser als die Türkei, die auf die zwölftgeringste Fallzahl kommt – wobei Neuseeland (17,1), Estland (12,7) und Finnland (10,5) das größte Problem damit haben. Allerdings ist die Türkei unter jenen elf ausgewerteten Ländern angesiedelt, in denen sich mehr Jugendliche das Leben nahmen.

UNICEF wertete für die Studie die psychische Gesundheit, die körperliche Gesundheit und die Entwicklung der Kompetenzen aus. Der Bericht analysierte zudem als Kernindikatoren die Lebenszufriedenheit, die Selbstmordrate unter Jugendlichen, die Kindersterblichkeit, das Übergewicht sowie bildungstechnische und soziale Kompetenzen.

Was im Fall der Türkei ebenfalls Anlass zur Besorgnis ist: Nur noch knapp 43 Prozent der 15-Jährigen sind mit ihrem Leben zufrieden. Damit liegt das Land in diesem Bereich weiter abgeschlagen auf dem letzten Platz hinter Chile und dem Vereinigten Königreich. Bereits bei der vorangegangenen Auswertung waren es nur knapp über 50 Prozent.

Kinder von Geflüchteten in der Türkei unter besonderem Druck

Ein Faktor, der dazu beitrug, war, dass 48 Prozent der rund 3,3 Millionen Geflüchteten in der Türkei Kinder sind. Offenbar trägt die teils gehässig geführte Debatte um sie dazu bei, dass viele von ihnen sorgenvoll auf ihre Zukunft blicken. Zudem ist der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen deutlich angestiegen, während die schulischen Erfolge unterdurchschnittlich blieben.

Prof. Dr. Özgür Öner vom Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Bahçeşehir-Universität erklärt, dass „auch die sozioökonomische Not und für einige Jugendliche politische Themen wichtige Faktoren“ seien. Die Betroffenen müssten mit einem allgegenwärtigen Gefühl der Unsicherheit kämpfen. Gegenüber der Webseite „Gazete Oksijen“ äußerte der Experte: „Es gibt eine große Angst vor der Zukunft. Mehr als 70 Prozent der Jugendlichen sagen, dass sie in einem anderen Land leben wollen.“

Psychologische Hilfe schwer zugänglich – hohe Kosten, kaum präventive Angebote

Ecem Demirtürk von der Türkischen Psychologischen Vereinigung wies auf gravierende Mängel in der Infrastruktur für psychische Gesundheit hin. Sie beklagte zudem, dass es „extrem schwierig und teuer“ sei, Zugang zu qualitativ hochwertiger Psychotherapie und Beratung zu erhalten. Häufig beschränkten sich Beratungsdienste zwangsläufig auf medikamentöse Unterstützung und Prüfungscoaching. Die fehlende Finanzierung und das Fehlen hochwertiger psychologischer Unterstützung trage zur Isolation vieler Jugendlicher bei. Psychiatrische Dienste seien nicht optional, sondern unverzichtbar, betonte Demirtürk.

Es müsse in schulische psychiatrische Dienste, breite psychologische Unterstützung für Familien und Kampagnen zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen investiert werden. Andernfalls werde das Leid der Betroffenen nur noch größer: „Die Kombination aus Vernachlässigung und Stigmatisierung führt dazu, dass sie ohne die Hilfe dastehen, die sie brauchen.“

Globale Trends zeigen Rückgang – Türkei jedoch mit gegenläufiger Entwicklung

Die Entwicklung im Wohlergehen und bei der Selbstmordrate unter Jugendlichen ist im Untersuchungszeitraum zweifellos von der Corona-Pandemie beeinflusst. Die Türkei – und auch Chile – gehörten zu jenen Ländern, in denen beispielsweise die Schulen am längsten geschlossen waren.

Generell treten etwa 90 Prozent der Fälle von Jugendselbstmorden in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen auf. Aber auch in reichen Ländern wie Österreich haben sich seit 2018 suizidale Gedanken und Handlungen bei Unter-18-Jährigen verdreifacht. Laut WHO war Suizid auch 2023 die vierhäufigste Todesursache unter Menschen zwischen 15 und 29 Jahren. Bei Kindern zwischen 10 und 14 Jahren war sie sogar die zweithäufigste.

Insgesamt ist zwischen 2000 und 2021 die weltweite altersstandardisierte Selbstmordrate um 35 Prozent gesunken. Allerdings gibt es deutliche regionale Unterschiede. Während sie in Afrika um drei Prozent zurückging, waren es im östlichen Mittelmeerraum laut WHO sogar 30 Prozent. Der Zuwachs unter türkischen Jugendlichen erfolgt damit gegen den Trend.

Die Berichterstattung über Selbsttötung(en) gebietet Zurückhaltung. DTJ-Online berichtet nur in Ausnahmefällen über Suizide, z.B. dann, wenn eine gesellschaftliche Relevanz gegeben ist.

Die Telefonseelsorge hat verschiedene anonyme und vertrauliche Beratungsangebote im Internet. Ein persönliches Gespräch bietet die Telefonseelsorge anonym und rund um die Uhr unter den gebührenfreien Telefonnummern 0800-111 0 111 und 0800-111 0 222 an. Neben Gesprächen am Telefon wird auch der Austausch per Mail oder Chat angeboten. Weitere Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie vor Ort bei einem Geistlichen, Arzt oder in lokalen Beratungsstellen. Diese finden Sie im örtlichen Telefonbuch über den Allgemeinen Sozialdienst der Stadt oder die Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie und Paritätischer Wohlfahrtsverband. Auch die Ehrenamtlichen des Muslimischen SeelsorgeTelefons (MuTeS) hören bei Problemen zu und unterstützen bei der Suche nach einem individuellen Ausweg – anonym und vertraulich.

 

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