Politik

Die langsame Zerschlagung der CHP: Wer zieht im Hintergrund die Fäden?

  • September 10, 2025
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Die langsame Zerschlagung der CHP: Wer zieht im Hintergrund die Fäden?

Die Absetzung der CHP-Spitze in Istanbul markiert mehr als nur einen lokalen Machtwechsel. Hunderte Funktionäre wurden inzwischen entmachtet – offiziell wegen „Verfahrensfehlern“. Doch ist das die (vollständige) Wahrheit? Kritiker sprechen von einem gezielten Schlag der regierungstreuen Justiz, die die größte Oppositionspartei des Landes strukturell schwächen soll. Parallel dazu: neue Festnahmen von Bürgermeistern, während der populäre Ekrem İmamoğlu weiter in Haft sitzt.

Seit Jahren gilt die türkische Justiz als verlängerte Hand der Regierung. Verfahren gegen Oppositionelle verlaufen nach einem wiederkehrenden Muster: erst Ermittlungen, dann mediale Kampagnen (oder umgekehrt), schließlich Urteile, die jede Form von Widerstand im Keim ersticken. Dass nun auch die nationale Parteispitze am 15. September vor Gericht steht, verstärkt den Verdacht: Die CHP soll systematisch unter staatliche Kontrolle gestellt werden.

Nordkoreanische Verhältnisse in der Türkei?

Der Journalist Serdar Akinan wählt klare Worte: „Die Türkei wird bald keinen Unterschied mehr zu Nordkorea haben.“ Mit dieser Warnung zeichnet er das Bild eines Landes, in dem Parteien, Gerichte und Parlamente nur noch als dekorative Fassade existieren. Hinter den Kulissen, so Akinan, seien die Spielräume der Opposition längst auf nahezu null geschrumpft.

Kılıçdaroğlu: Oppositionsführer oder Statthalter des Systems?

Besonders brisant ist die Kritik am ehemaligen CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu. Journalist Levent Gültekin berichtet von einem Gespräch kurz vor der Präsidentschaftswahl: Er habe Kılıçdaroğlu gewarnt, nicht gegen Erdoğan anzutreten, und stattdessen İmamoğlu vorgeschlagen. Doch Kılıçdaroğlu habe entgegnet: „Es ist nicht meine Entscheidung. Es ist längst beschlossen Sache.“

Wer aber trifft solche Entscheidungen, wenn nicht die Parteiführung? Gültekin spricht von „Kräften im Hintergrund“. Manche deuten in Richtung interner Staatseliten, andere spekulieren gar über geopolitische Akteure wie die USA. Eines ist klar: Für Kılıçdaroğlus Gegner ist er nicht der Mann gewesen, der die Opposition stärkte – sondern jemand, der mit seiner Rolle das System stabilisierte.

Verschwörung: „Projekt Großer-Mittlerer-Osten“

Auch deshalb hallen die Worte von Gültekin heute besonders laut nach. Denn sie passen in ein Bild, welches von Verschwörern immer wieder betont wird. Die Türkei sei mit Recep Tayyip Erdoğan Teil eines westlichen Plans, den Nahen Osten neu zu ordnen. Sie bringen auch die aktuelle Vernichtung in Gaza, die auch schon für einige EU-Behörden die Stufe eines Völkermords erreicht hat, die Neuordnung Syriens, den Waffenstillstand mit der PKK und viele weitere geopolitische Fälle damit in Verbindung.

Und die CHP ist in dieser Verschwörung für viele das fehlende Puzzle-Stück gewesen. Nun, mit den jüngsten Entwicklungen, scheint der sogenannte Plan des „Großen-Mittleren-Osten“ (türkisch BOP) aufzugehen. Zumindest für Verschwörer, die sich auf Erdoğans frühere Worte beziehen. Denn vor Jahren sagte der türkische Präsident, dass er einer der Co-Vorsitzenden eines solchen Vorhabens sei.

Zwei CHPs – Spaltung oder Strategie?

Die CHP und ihre Wählerschaft stehen nun vor einem beispiellosen Chaos. Wie geht es weiter? Kann man die eigene Partei überhaupt noch unterstützen? Der regierungsnahe Kommentator Rasim Ozan Kütahyalı beschreibt die paradoxe Lage als „zwei CHPs“:

  • eine juristisch anerkannte CHP unter Zwangsverwalter Gürsel Tekin, die formal im System verbleibt,

  • und eine Basis-CHP, die sich um den inhaftierten İmamoğlu schart, jedoch ohne jede Handlungsfähigkeit.

Hier stellt sich die Frage: Ist das Ziel, die Partei zu spalten und damit zu neutralisieren? Oder dient die juristisch installierte Führung lediglich dazu, der Weltöffentlichkeit den Anschein von Pluralismus zu erhalten?

Das Ende der Mehrparteien-Demokratie?

Die Türkei bewegt sich in Richtung eines elektoralen Autoritarismus: Wahlen finden statt, doch die Ergebnisse und Kandidaten werden faktisch durch Justiz, Medienkontrolle und staatliche Machtapparate vorbestimmt. Opposition existiert – aber nur so lange, wie sie das System nicht gefährdet.

Wenn die Justiz auch die nationale Parteiführung absetzt, wäre die CHP nicht mehr als ein staatlich gelenkter Torso. Dann stellt sich die entscheidende Frage:
Bleibt überhaupt noch Raum für eine echte Opposition – oder erleben wir gerade das Ende der Mehrparteien-Demokratie in der Türkei?

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