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Dündar, Demirtaş, İmamoğlu: Erdoğan nutzt einmal mehr ein bewährtes Prinzip

  • März 25, 2025
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Dündar, Demirtaş, İmamoğlu: Erdoğan nutzt einmal mehr ein bewährtes Prinzip

Die Inhaftierung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu sorgt für Aufsehen. Kritiker sehen darin einen gezielten Schachzug der türkischen Regierung, um den beliebten CHP-Politiker von einer Präsidentschaftskandidatur 2028 auszuschließen. Präsident Erdoğan nutzt einmal mehr ein bewährtes Prinzip, um seine Macht zu sichern.

Seit Sonntag ist klar: Istanbuls CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu bleibt in Haft. Das zuständige Gericht entschied, dass der Politiker in Untersuchungshaft muss. Zudem wurde er als Bürgermeister der Millionenmetropole abgesetzt. Warum die Führung in Ankara den im Vorjahr souverän wiedergewählten Oppositionspolitiker gerade jetzt aus dem Weg räumen will, ist offensichtlich. Bereits am Sonntag wollte die Republikanische Volkspartei ihren Präsidentschaftskandidaten für 2028 nominieren – und es wurde, wie schon vorher so gut wie sicher war, İmamoğlu gekürt. Über 15 Millionen Stimmen wurden laut ihm abgegeben. Stand jetzt dürfte es nur eine symbolische Kür sein. Denn schon zuvor wurde ihm durch die Annullierung seines Hochschuldiploms von vornherein eine mögliche Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2028 verbaut.

Für den Amtsinhaber schafft dies nun eine bequeme Position. Erdoğan kann sich aussuchen, ob er entgegen der Verfassung und seiner ursprünglichen Ankündigung noch eine Amtszeit als Staatsoberhaupt anhängen will. Es ist davon auszugehen, dass er Wege finden würde, um der Kandidaturbeschränkung durch die Verfassung zu entgehen, möglicherweise mittels eines vorgezogenen Urnengangs.

Demgegenüber steht der CHP erneut eine lähmende Kandidatendebatte bevor – die zudem Flügelkämpfe wiederaufleben lassen würde. Während İmamoğlu für eine moderne, inklusive Politik steht, die alte Ressentiments hinter sich lassen möchte, steht sein Rivale Mansur Yavaş für die CHP von gestern. Der Bürgermeister von Ankara war erst in den 2010er Jahren von der rechtsextremen MHP zu den Republikanern gewechselt. Er würde der Partei vermutlich wieder jenen aggressiven nationalistischen Kurs aufzwingen, der schon 2023 nicht Kemal Kılıçdaroğlu zum Präsidenten, sondern Sinan Oğan zum Königsmacher Erdoğans gemacht hat. Parteichef Özgür Özel, der Überraschungssieger der Kommunalwahlen von 2024, hätte alle Hände voll zu tun, die Wogen zu glätten. Er selbst dürfte als Präsidentschaftskandidat nicht zur Verfügung stehen: Vielen gilt er als zu wenig charismatisch für dieses Amt. Außerdem nehmen ihm viele in der eigenen Partei übel, dass er dem langjährigen Vorsitzenden Kılıçdaroğlu einen wenig würdevollen Abgang beschert hatte.

Erdoğan versteht die Türkei wie kein anderer

Dass die Verhaftung und Absetzung İmamoğlus ausgerechnet kurz vor dessen geplanter Nominierung kam, zeigt einmal mehr, dass Erdoğan wie kein Zweiter das Prinzip „Teile und herrsche“ beherrscht. Er spielt es nicht nur mit der CHP, sondern seit Beginn seiner Ära mit der gesamten Opposition. Ob es Politiker, Journalisten oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind: Sobald einer von ihnen Erdoğan gefährlich werden kann, instrumentalisiert dieser die Justiz für seine Zwecke. Meist sind „Terrorismus“ oder „Korruption“ die Aufhänger. Und immer kann er darauf zählen, dass es unter den verschiedenen Oppositionsgruppen keine Solidarität gibt.

Ob es um Can Dündar, Fethullah Gülen, Selahattin Demirtaş oder jetzt Ekrem Imamoğlu geht: Erdoğan kommt jedes Mal mit seinem Versuch durch, Rivalen aus dem Weg zu räumen. Der Grund dafür ist, dass er die türkische Gesellschaft und ihre Geschichte wie kein Zweiter versteht. Er ist sich dessen bewusst, dass es keine gesellschaftlich relevante Gruppe in der Türkei gibt, die nicht mit irgendeiner anderen eine Rechnung offen hätte.

In den 2000er Jahren begann es mit den alten kemalistischen Eliten, gegen die Erdoğan 2008 mit den Ergenekon-Verfahren zum Angriff überging. Ein erheblicher Teil der Türken, seien es religiöse Menschen oder Angehörige von Minderheiten gewesen, begrüßte dieses Vorgehen. Immerhin hatten die Kemalisten weite Teile der Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg bevormundet und unterdrückt. Einige ihrer führenden Köpfe auf der Anklagebank zu sehen, erweckte Schadenfreude. Ob die Vorwürfe im Detail stimmten oder nicht, interessierte kaum jemanden. Erdoğan konnte sich als Befreier vom Joch der Militärherrschaft feiern lassen.

Alle Jahre wieder braucht es ein neues Feindbild

Wenige Jahre später erkannte Erdoğan jedoch in der Gülen-Bewegung (Hizmet) ein neues Feindbild. Die vom islamischen Prediger Fethullah Gülen inspirierte Freiwilligenbewegung hatte nicht nur einer neuen Mittelschicht in der Wirtschaft einen schnellen Aufstieg erleichtert. Ihre Bildungsarbeit ermöglichte auch vielen Menschen, die zuvor keine Chance darauf hätten, akademische Abschlüsse und Karrieren in Verwaltung und Justiz. Zudem wurde ihr Leitmedium „Zaman“ zur meistgelesenen Publikation – womit neue Gedanken in die türkische Gesellschaft getragen wurden.

Nachdem diese Medien und die Justiz 2013 Korruption in höchsten Regierungskreisen aufgedeckt hatten, wurde das Gülen-Netzwerk zum „Parallelstaat“ und wenig später auch zur „Terrororganisation“ erklärt. Erdoğan ließ die Ergenekon-Generäle frei und empfahl sich den alten Eliten als Verbündeter gegen die Bewegung. Immerhin war ihm bewusst, dass die radikalen Säkularisten und Kemalisten Gülen von jeher als gefährlichen Gegenspieler betrachtet hatten. Obwohl die Gülen-Bewegung den Aussöhnungsprozess und die Stärkung der Rechte der kurdischen Bevölkerung 2013 und 2014 ausdrücklich begrüßt hatte, erhielt sie aus dieser nur wenig Solidarität. Ein Grund dafür war, dass die Regierungspropaganda es schaffte, mithilfe einiger verfälschter Zitate den Prediger als vermeintlichen Kurdenfeind zu brandmarken.

Im Jahr 2015 wurden dann mit Can Dündar und der Zeitung „Cumhuriyet“ wieder säkularistische und der CHP nahestehende Kräfte ins Visier genommen. Wieder blieb das angegriffene Lager allein auf sich gestellt. Weder Erdoğan-kritische religiöse noch kurdische Gruppierungen solidarisierten sich in nennenswerter Weise mit Dündar. Immerhin hatte dessen Blatt in der Vergangenheit auch nie deren Rechte verteidigt. Im gleichen Jahr verlor die AKP die Parlamentswahl und schmiedete ein Bündnis mit den Ultranationalisten. Als vertrauensbildende Maßnahme ordnete Erdoğan eine massive Militäroperation gegen kurdische Gruppierungen im Südosten der Türkei an und mobilisierte syrische Dschihadisten etwa gegen die YPG in Syrien.

Der Putsch als entscheidender Wegbereiter zu Erdoğans Allmacht

Ein Jahr später scheiterte dann der Putschversuch vom 15. Juli – und für die türkische Führung stand die Gülen-Bewegung als vermeintlicher Urheber fest. Wieder konnte er auf die Unterstützung der republikanischen Opposition zählen. Auch die Abspaltung der IYI-Partei Meral Akşeners von der MHP änderte nichts daran, dass Hizmet und ihre Freiwilligen über alle politischen Lager hinweg zu Aussätzigen wurden. Niemand wagte es, das hasserfüllte Narrativ der Regierung auch nur ansatzweise infrage zu stellen.

Seit dem Putsch ist Erdoğan der unangefochtene Machthaber in der Türkei – und selbst die Versuche, die versprengten Oppositionsgruppen unterschiedlicher Couleur zu einer gemeinsamen Wahlplattform zu vereinen, scheiterten. Ein Grund dafür war, dass die wechselseitigen Ressentiments zwischen Säkularisten, Religiösen, Angehörigen von Minderheiten und mittlerweile auch Wirtschaftsliberalen nie wirklich überwunden wurden. Sie alle stehen sich gegenseitig in einer Abneigung gegenüber, die mindestens ebenso tief ist wie die jedes Einzelnen von ihnen gegenüber Erdoğan. Dieser weiß das, und er weiß es für sich zu nutzen. Das auf ihn zugeschnittene türkische Wahlrecht macht es möglich, dass er und das AKP-geführte Bündnis auch mit einem Ergebnis um die 40 Prozent die Opposition immer noch in Schach halten können.

Eigentlich, so müsste man meinen, sollten alle Akteure mittlerweile gelernt haben, dass die Alternative zu Erdoğan nicht eine andere autoritäre Türkei unter der Führung eines anderen Lagers sein kann. Vielmehr sollte es das Ziel aller Oppositioneller sein, sich trotz aller Auffassungsunterschiede auf einen Mindestkonsens zu verständigen – ein Land, das Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte für alle gewährleistet. Solange die Gegner des Potentaten aber immer noch die Vergangenheit über eine solche Zukunft stellen, wird Erdoğan jede Gegenwart beherrschen.

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Ercan Karakoyun