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Gesellschaft

Kommunalwahlen in der Türkei: Erdoğans Schicksal liegt in Istanbul und Ankara

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Banner des türkischen Präsidenten und Vorsitzenden der AKP, Recep Tayyip Erdoğan (unten) und der Republikanischen Volkspartei (CHP) mit dem amtierenden Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, hängen vor den landesweiten Kommunalwahlen in Istanbul. Foto: Francisco Seco/AP
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Die Menschen in der Türkei sind aufgerufen, bei Kommunalwahlen über ihre politische Führung abzustimmen. Mit großer Spannung werden besonders die Ergebnisse in den Metropolen, wo die Opposition regiert, erwartet. Die Regierung rechnet sich Chancen aus, kommt es zu einer Wachablösung?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat zum Eroberungskampf aufgerufen. In Istanbul haben sich seine Anhänger versammelt, einige haben sich rote Bänder mit dem Namen ihres Präsidenten um den Kopf gebunden, andere hüllen sich in Fahnen mit Erdoğans Gesicht. Für den Staatschef und seine AKP geht es bei den Kommunalwahlen an diesem Sonntag um den Sieg über die großen Bastionen der Opposition im Land. Er scheut dabei keine Mühe und Tricks.

Rund 61 Millionen Wähler sind an diesem Sonntag, den 31. März, dazu aufgerufen, landesweit Bürgermeister und Kommunalparlamente zu wählen. Im Fokus der Wahl aber steht neben der Hauptstadt Ankara und der Millionenstadt Izmir an der Westküste besonders die Bosporus-Metropole Istanbul, die bevölkerungsreichste Stadt und das wirtschaftliche Herz des Landes, das derzeit von Erdoğans größtem politischen Gegner regiert wird.

Anfang vom Ende der Erdoğan-Ära? Wohl zu früh gefreut

Für Erdoğan ist die 16-Millionen-Metropole der Ort, an dem er seinen politischen Aufstieg erlebte. 1994 wurde er zum Bürgermeister von Istanbul gewählt, bevor er 2003 Ministerpräsident des Landes und 2014 Staatspräsident wurde. Istanbul ist aber auch Schauplatz der größten Niederlage seiner politischen Karriere. Gemeinsam mit Ankara und Izmir ging Istanbul 2019 nach mehr als 25 Jahren Regierung der AKP und ihrer islamisch-konservativen Vorgänger an die CHP.

Die AKP annullierte die Wahl – bei der Wiederholung gewann die Opposition mit noch größerem Abstand. Damals sahen viele darin den Anfang vom Ende der Erdoğan-Ära. Doch sein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 hat diese Hoffnung größtenteils begraben.

Welche Rolle kann die Yeniden Refah spielen?

Sollte Istanbul zurück an die AKP gehen, droht laut Beobachtern zudem ein weiteres Abgleiten in den Autoritarismus. Erdoğan könnte sich dadurch beflügelt fühlen und Grenzen austesten – zum Beispiel die einer Verfassungsänderung und sich damit eine erneute Amtszeit sichern, die die derzeitige Verfassung verbietet.

Wahlen: Kann die AKP Istanbul und Ankara zurückholen?

Doch ausgemacht ist der Sieg in der Metropole noch nicht. Die Wirtschaftslage im Land ist schlecht, viele Rentner etwa sind wütend, ihre Stimme könnte das Blatt gegen Erdoğan wenden. Ein weiteres Risiko für den Präsidenten ist der wenn auch nicht sonderlich große Aufstieg der islamistischen Yeniden Refah Partei, die von Erbakan-Sohn Fatih angeführt wird und die der AKP Stimmen abgraben könnte. Erbakan gilt als Ziehvater Erdoğans.

Politisch läuft nichts ohne den 70-jährigen Erdoğan

Umfragen sagen ein knappes Rennen voraus zwischen dem Kandidaten der AKP und Ekrem İmamoğlu von der landesweit stärksten Oppositionspartei CHP. İmamoğlu, seit fünf Jahren als Bürgermeister im Amt, gilt außerdem weiter als einziger halbwegs aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans bei einer künftigen Präsidentschaftswahl.

De facto tritt er auch im Wahlkampf jetzt schon gegen den Staatspräsidenten an, auch wenn der gar nicht kandidiert. Nach mehr als 21 Jahren, in denen das System auf Erdoğan zugeschnitten und auch die Wählerschaft emotional auf ihn eingeschärft wurde, läuft in dem Land politisch nichts ohne den 70-Jährigen.

Murat Kurum – der AKP-Herausforderer in Istanbul

Und so soll es wohl auch bleiben: Der AKP-Kandidat für Istanbul ist Murat Kurum, ein farbloser Technokrat, der aus Sicht vieler als Strohmann des Präsidenten fungiert und im Wahlkampf eher durch Versprecher und ungelenke Tanzeinlagen auffiel. Nach Meinung des politischen Analysten Berk Esen steckt hinter der Nominierung des 47-jährigen ehemaligen Städtebauministers die Absicht Erdoğans, innerparteilich keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten aufzubauen.

Aber auch für die Opposition steht einiges auf dem Spiel. „In einer immer autoritärer werdenden Türkei, die Ressourcen bei der Regierung konzentriert, brauchen Oppositionsparteien Zugang zu kommunalen Ressourcen, um zu überleben“, sagt Esen. Den Sieg İmamoğlus wollen aber nicht nur Erdoğan und Kurum verhindern.

90 Prozent der Medien in Regierungshand

İmamoğlus Partei, die sozialdemokratische CHP, steckt in scharfen Flügelkämpfen, auch innerparteilich gibt es Widerstand von alten säkularen Eliten gegen den gläubigen Muslim İmamoğlu, heißt es. Auch auf die Unterstützung der kurdischen Wähler kann İmamoğlu sich nicht verlassen. 2019 hatte die prokurdische Partei HDP ihm die Unterstützung ausgesprochen, nun schickt ihre Nachfolgepartei, die DEM, eine eigene Kandidatin ins Rennen.

Rente oder Finte? Erdoğan kündigt erneut Rückzug aus der Politik an

Zum Nachteil der Opposition wirkt sich auch aus, dass der Wahlkampf unter stark ungleichen Voraussetzungen geführt wird: Die AKP hat weitaus mehr Zugriff auf finanzielle Mittel. 90 Prozent der Medien sind in Regierungshand, wo deren Sicht auf die Welt unhinterfragt und in nahezu Propaganda-Manier verbreitet wird. İmamoğlu droht zudem weiterhin ein Politikverbot.

„İmamoğlu ist der beste Kandidat der Opposition“

Der 53-Jährige war 2022 wegen Beleidigung verurteilt worden – sollte das Urteil rechtskräftig werden, darf er kein politisches Amt mehr ausüben. Kritiker sahen in dem Urteil den Versuch, den beliebten Politiker politisch kaltzustellen. „İmamoğlu ist der beste Kandidat der Opposition“, sagt Esen. Nach einem erneuten Sieg würde es sehr schwierig, İmamoğlu abzuschreiben. „Das weiß auch Erdoğan.“

Wohl auch darum kündigte Erdoğan vor einigen Wochen an, die Wahlen nun seien seine letzten – laut Beobachtern der Versuch, AKP-Wähler emotional zu gewinnen. Der Politikanalyst Murat Yetkin erwartet das Gegenteil: Auf einen Sieg Kurums würde unweigerlich die Schwächung der Kontrollmechanismen in der Exekutive folgen, „und eine weitere Kandidatur Erdoğans“.

dpa/dtj