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Politik

Kurz vor dem Gipfel: Erdoğan übertrifft sich fast selbst mit neuer Forderung

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Vom NATO-Gipfel in Litauen soll eigentlich ein Signal der Geschlossenheit ausgehen. Den türkischen Präsidenten scheint das allerdings wenig zu interessieren.

Der NATO-Gipfel in Litauen droht von Streit über den geplanten Bündnisbeitritt Schwedens und die Ukraine-Politik überschattet zu werden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan machte die Zustimmung seines Landes zur Aufnahme Schwedens am Montag überraschend davon abhängig, dass der vor Jahren auf Eis gelegte EU-Beitrittsprozess für die Türkei wieder aufgenommen wird. Zudem erteilte Deutschland dem ukrainischen Wunsch nach einer formellen Einladung in die NATO eine klare Absage. „Für eine Einladung der Ukraine, für konkrete Schritte in Richtung Mitgliedschaft (ist) der Zeitpunkt nicht da. Hierfür gibt es auch unter den Verbündeten keinen Konsens“, hieß es aus Regierungskreisen.

Nach Angaben von Diplomaten anderer NATO-Staaten stemmt die Bundesregierung sich in den Verhandlungen über die geplante Gipfelerklärung zudem gegen eine Formulierung, dass die Ukraine einen „rechtmäßigen Platz“ im Bündnis hat. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es zu der Ukraine-Passage in der Erklärung lediglich, dies sei eine „von fünf, sechs Fragen, die im Moment noch diskutiert werden“.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg räumte am Montag ein, dass noch keine endgültige Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine getroffen wurde, die sich seit 16 Monaten gegen einen Angriffskrieg Russlands verteidigt. Konsultationen über die Bedingungen für den Weg der Ukraine zu einer Mitgliedschaft seien weiterhin im Gang, sagte er nach einem Treffen mit Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda.

In den Hintergrund rückte damit zunächst, dass die NATO mit dem an diesem Dienstag beginnenden Gipfeltreffen in Vilnius eigentlich eine klare Botschaft der Geschlossenheit an Russland Präsidenten Wladimir Putin senden will. Dieser soll nach dem Wunsch des Verteidigungsbündnisses einsehen, dass sein Krieg gegen die Ukraine zum Scheitern verurteilt ist und jede Aggression gegen einen NATO-Staat eine entschlossene Reaktion des gesamten Bündnisses zur Folge hätte.

Erdoğan will EU-Beitrittsperspektive

Vor allem für den türkischen Präsidenten Erdogan scheinen nationale Interessen allerdings wichtiger zu sein. Er erklärte am Montag vor dem Abflug zum NATO-Gipfel an die EU-Länder gerichtet: „Ebnet zunächst den Weg der Türkei in die Europäische Union, danach ebnen wir den Weg für Schweden, so wie wir ihn für Finnland geebnet haben.“

Erdoğan stellte damit neben einem stärkeren Engagements Schwedens im Kampf gegen die Terrororganisation PKK eine weitere, bisher nicht genannte und für viele überraschende Bedingung für die notwendige Zustimmung seines Landes zum NATO-Beitritt für Schweden. Problematisch ist dies, weil die EU der Türkei seit Jahren vorwirft, demokratische und rechtsstaatliche Standards nicht zu erfüllen. Eine Aufnahme der Türkei gilt deswegen auf Jahre hinweg als absolut illusorisch. Auch Erdoğan hatte sich zuletzt wechselhaft über die EU geäußert und somit Zweifel an einem ernsthaften Beitrittsinteresse durchklingen lassen.

Ob Erdoğan es mit seiner neuen Bedingung wirklich ernst meint, blieb am Montag zunächst unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach sich klar gegen eine Verknüpfung des NATO-Beitritts Schwedens mit dem EU-Beitrittsprozess der Türkei aus. Beide Fragen hingen nicht miteinander zusammen, betonte er. Die CDU-Verteidigungsexpertin Serap Güler sieht hinter der jüngsten Forderung des türkischen Präsidenten eine innenpolitische Motivation. Sie gehe davon aus, dass es sich dabei erneut um ein Schema handelt, das von Erdoğan bekannt sei: „Innenpolitisch mit außenpolitischen Themen punkten wollen, indem er den westlichen Partnern vor den Kopf stößt“, sagte Güler dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Andere Beobachter und Politiker sprachen von einem „Erpressungsversuch“. Stoltenberg hingegen signalisierte hingegen Unterstützung für einen türkischen EU-Beitritt.

Schutz für die Ukraine wie für Israel?

Er äußerte sich am Montag trotz der Entwicklungen optimistisch, dass die Verbündeten beim zweitägigen Gipfel eine gute, starke und positive Botschaft haben werden. Seinen Angaben zufolge soll bei dem Spitzentreffen unter anderem ein mehrjähriges Programm vereinbart werden, um künftig eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Ukraine und des Bündnisses zu ermöglichen. Zudem ist geplant, das bereits 2008 gegebene Versprechen zu erneuern, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden kann – vermutlich ohne zuvor das bislang übliche Heranführungsprogramm MAP (Membership Action Plan) absolviert zu haben. Bis dahin ist geplant, die politischen Beziehungen über die Schaffung eines neuen NATO-Ukraine-Rates zu vertiefen.

Länder wie die USA, Deutschland und Großbritannien wollen zudem nach Angaben von Diplomaten einen umfassenden Rahmen für neue Sicherheitszusagen schaffen. So sind die USA nach Angaben von Präsident Joe Biden bereit, der Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskriegs ähnlichen Schutz zu bieten wie Israel. Die USA unterstützen Israel jedes Jahr mit rund 3,8 Milliarden US-Dollar – davon geht ein beachtlicher Teil in die Abwehr von Raketen und Militärtechnik. Deutschland will der Ukraine beim NATO-Gipfel weitere Waffenlieferungen in größerem Umfang zusagen. Es werde dort „sehr substanzielle“ Ankündigungen geben, hieß es aus deutschen Regierungskreisen in Berlin.

Gipfel soll Abschreckung und Verteidigung voranbringen

Um Russland und andere mögliche Aggressoren von einem Angriff auf ein NATO-Land abzuschrecken, sollen die Staats- und Regierungschefs zudem neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet billigen. Bereits beim Gipfel im vergangenen Jahr hatte Stoltenberg angekündigt, dass künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche NATO-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der NATO für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit circa 40.000 Soldatinnen und Soldaten.

Da der Ausbau der militärischen Fähigkeiten Unmengen an Geld kostet, haben sich die NATO-Staaten bereits im Vorfeld des Gipfels darauf verständigt, das gemeinsame Ziel für die nationalen Verteidigungsausgaben zu verschärfen. Angestrebt wird demnach künftig, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben.

Drohungen aus Moskau und Selenskyj als Gast

Mit Spannung wird erwartet, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf den zu erwartenden Kompromiss zur Aufnahmeperspektive reagieren wird. Er hatte zuletzt immer wieder eine konkrete Beitrittseinladung für sein Land gefordert und sein Kommen zum Gipfel von einer offenen Diskussion darüber abhängig gemacht. Selenskyj wird von der NATO an diesem Mittwoch in Vilnius erwartet. Für diesen Tag ist auch das erste Treffen des neuen NATO-Ukraine-Rates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs geplant.

Aus Russland kamen unterdessen Drohungen. Ein NATO-Beitritt der Ukraine werde „sehr negative Folgen für die gesamte und ohnehin schon halbzerstörte Sicherheitsarchitektur Europas haben und eine absolute Gefahr und Bedrohung für unser Land darstellen“, betonte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Ein solcher Schritt würde von russischer Seite eine „ziemlich harte und verständliche Reaktion erfordern“, fügte Peskow hinzu.

dpa/dtj