„Mädchenprozess“ in Istanbul: Minderjährige unter Terrorverdacht – Menschenrechtler schlagen Alarm

Im sogenannten „Mädchenprozess“ in der Türkei stehen 48 Personen, darunter 15 minderjährige Schülerinnen, wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor Gericht. Menschenrechtsorganisationen kritisieren schwere Verstöße gegen rechtsstaatliche Standards, darunter Einschüchterung, Beweismanipulation und Verletzung internationaler Konventionen. Ein neuer Verhandlungstermin steht noch aus.
Im Verfahren gegen 48 Personen, die türkische Sicherheitskräfte im Mai 2024 in Istanbul festgenommen hatten, ist nach dem Prozesstag vom 18. Februar 2025 immer noch kein neuer Verhandlungstermin festgesetzt worden. Es wird damit gerechnet, dass dieser im zweiten Halbjahr stattfinden wird. Der berüchtigte „Mädchenprozess“ hat unter internationalen Prozessbeobachtern und Menschenrechtsorganisationen besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen, da sich unter den Betroffenen auch 15 minderjährige Schülerinnen im Alter von 13 bis 17 Jahren befinden. Kritiker halten ihn für einen beispiellosen Tiefpunkt türkischer Rechtsgeschichte.
Grundlage für den Prozess ist Konstruktion einer „FETÖ-Studentenstruktur“
Im September fand eine erste Anhörung mit 41 Angeklagten statt. Von 19 zu diesem Zeitpunkt noch in Haft befindlichen Angeklagten wurden elf freigelassen, weitere zwei kamen nach der zweiten Anhörung am 12. Dezember frei. Unter den Angeklagten, gegen die Haftanordnungen verlängert wurden, waren auch die an Parkinson und einem Leberleiden erkrankte Aysu Öztaş Bayram und Rabia Battal Genç, die in Haft eine Gehirnblutung erlitt.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, eine „Studentenstruktur“ der Gülen-Bewegung und damit einer „terroristischen Organisation“ aufgebaut zu haben. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, von der Grundschule bis zur Universität Dritten Lernunterstützung gegeben zu haben. Im Wege einer „Zirkelmobilisierung“ sollen damit gezielt betreute Kinder und Familien mit den Lehren von Fethullah Gülen vertraut gemacht worden sein.
Zur Verstärkung soll die „Studentenstruktur“ Personen als Lehrpersonal eingestellt haben, gegen die infolge der Notstandsdekrete nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 Berufsverbote bestanden hatten. Gleichzeitig sollen sie aber auch versucht haben, die Flucht wegen Gülen-Verbindungen gesuchter Personen ins Ausland geplant zu haben.
16 Stunden unter Druck und Drohungen festgehalten
Die türkische Regierung macht die Gülen-Bewegung, von ihr als „Fethullahistische Terrororganisation“ (FETÖ) bezeichnet, für den versuchten Staatsstreich verantwortlich. Die Freiwilligen der Bewegung, die sich selbst als Hizmet bezeichnet, bestreiten jede Verwicklung, und auch Nachrichtendienste ausländischer Staaten wie BND und Verfassungsschutz zweifeln an der Existenz von „FETÖ“.
Die Anklage fordert für 37 Angeklagte Haftstrafen zwischen 7 Jahren und 6 Monaten und 15 Jahren. In vier Fällen, wo „tätige Reue“ berücksichtigt werden soll, reichen die Anträge von 2 Jahren und 6 Monaten bis zu 3 Jahren und 9 Monaten. Rechtsbeiständen und NGOs zufolge wurden einige der Jugendlichen im Laufe des Verfahrens unter Auflagen wie Meldepflicht oder Ausreiseverboten freigelassen. Einige blieben noch über Monate in Haft.
Beobachter des Prozesses sprechen von teils erfundenen, teils willkürlich konstruierten Anklagepunkten. Der in den USA lebende Regierungskritiker und Gülen-Anhänger Enes Kanter Freedom schrieb im September 2024 in „Newsweek“, in den frühen Morgenstunden des 7. Mai des Vorjahres hätten Polizeikräfte die 15 minderjährigen Mädchen zur Vernehmung abgeführt.
In weiterer Folge seien ihre Wohnräumlichkeiten durchsucht worden. Die Mädchen selbst habe man für fast 16 Stunden ohne Rechtsbeistand festgehalten. Anwesende Polizeikräfte haben sie späteren Angaben zufolge massiv eingeschüchtert und auch bedroht.
Im „Mädchenprozess“ werden alltägliche Handlungen zum „Terrorakt“
Im Anschluss sei von den Mädchen verlangt worden, gegen ihre unter „Terrorverdacht“ stehenden Familienangehörigen auszusagen. Wie die Rechtshilfeorganisation „Silenced Turkey“ deutlich macht, hatten die türkischen Strafverfolgungsbehörden gegen mehrere Mindeststandards der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.
Das beginne bereits bei der fadenscheinigen Konstruktion der „Terrorismus“-Vorwürfe. Diese stützte sich zum einen auf Umstände, die vom EGMR bereits mehrfach als strafrechtlich irrelevant eingestuft worden seien. Dazu gehört unter anderem die Verwendung des Messengers ByLock.
Zum anderen werden die Anklagen auch darüber hinaus auf völlig selbstverständlich anmutende Alltagshandlungen gestützt. So wird Aysu Öztaş Bayram als strafrechtlich relevanter Teilakt zur „terroristischen“ Betätigung vorgeworfen, dass diese ihre Töchter zu Sozialkontakten mit College-Studenten in der Nachbarschaft ermuntert habe. Diese hätten dann zusammen gelernt, wären zum Bowling gegangen und hätten Filme gesehen. Auch der Einkauf bei bestimmten Lieferdiensten oder Zusammenleben in Wohngemeinschaften seien als „Beweise“ herangezogen worden.
Verletzungen von Grundrechten – Anwälte und NGOs üben scharfe Kritik
Die Polizei habe jedoch auch illegale Methoden angewandt, um Informationen zu beschaffen. Zudem seien Beweise fabriziert worden, um unbegründete Anschuldigungen zu untermauern. Es seien persönliche Gespräche und alltägliche Kommunikationen der Mädchen abgehört worden. Diese seien zudem beim Schulbesuch, bei gesellschaftlichen Veranstaltungen und der Interaktion mit Gleichaltrigen überwacht worden.
Dazu habe man ohne richterliche Genehmigung Telefondaten und Social-Media-Interaktionen auf Plattformen wie WhatsApp und Telegram ausgelesen. Darüber hinaus gebe es Anhaltspunkte für Beweisfälschung – zusätzlich zu der Praxis, Familienmitglieder zu verhaften, um die minderjährigen Beschuldigten unter Druck zu setzen.
Proteste internationaler Menschenrechtsorganisationen oder prominenter Persönlichkeiten wie des früheren Schachgroßmeisters Garry Kasparow hat die türkische Führung bisher konsequent ignoriert.