Menschenrechte

Amnesty: Türkei ignoriert Menschenrechte und EGMR-Urteile weiterhin systematisch

  • Mai 1, 2025
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Amnesty: Türkei ignoriert Menschenrechte und EGMR-Urteile weiterhin systematisch

In ihrem aktuellen Jahresbericht kritisiert Amnesty die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei unter Präsident Erdoğan. Der Bericht dokumentiert politische Repression, Missachtung internationaler Gerichtsurteile und eine Justiz, die als Werkzeug gegen Oppositionelle eingesetzt wird.

Am Dienstag veröffentlichte die bekannte Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihren Jahresbericht 2024-2025. In diesem wurde der Türkei erneut ein ausführliches Kapitel gewidmet. Die dortigen Ausführungen bestätigen den von Regierungskritikern vermittelten Eindruck einer stetigen Verschärfung des autoritären Kurses der Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

İmamoğlu-Verhaftung im Amnesty-Bericht noch nicht berücksichtigt

Amnesty resümiert in ihrem Bericht, dass die bereits in den Jahren zuvor dargestellten Menschenrechtsverletzungen fortgesetzt würden. Ein Korrektiv existiere dabei nicht, da die Justiz nicht unabhängig agiere. Politisch motivierte Prozesse seien an der Tagesordnung, abweichende Meinungen würden unterdrückt und die Glaubwürdigkeit des Rechtssystems dadurch untergraben.

Die türkische Regierung nutze die Justiz auch, um unliebsame Wahlentscheidungen rückgängig zu machen. So habe die Opposition zwar die Kommunalwahlen 2024 klar gewonnen. Die Regierung habe jedoch in mehreren Gemeinden gewählte Bürgermeister wegen angeblicher Terrorverbindungen ihrer Ämter enthoben – und durch regierungstreue ersetzt. Die Absetzung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu war beim Redaktionsschluss offenbar noch nicht berücksichtigt. Es ist davon auszugehen, dass dieser andernfalls namentlich Erwähnung gefunden hätte.

Im Bericht prangert die Menschenrechtsorganisation auch an, dass die Türkei Urteile internationaler Gerichte wie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) systematisch ignoriere. Ein Beispiel, das dabei genannt wurde, war jenes von Osman Kavala. Der Unternehmer und Mäzen wurde nach dem Putschversuch von 2016 inhaftiert.

Türkei leistet Urteilen des EGMR nicht Folge

Dem Gründer der Open-Society-Stiftung in der Türkei wurde auf Grundlage einer Medienkampagne nach dem gescheiterten Putschversuch einiger Militärs im Juli 2016 eine Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Trotz eines Freispruchs im Jahr 2020 und einer Verurteilung der Türkei durch den EGMR im Jahr 2019 bleibt Kavala wegen des Vorwurfs des „Terrorismus“ in Haft.

Ebenfalls unter Missachtung eines Urteils des EGMR bleibt auch der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş hinter Gittern. Er wurde ebenso wie seine frühere Sprecherkollegin der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Figen Yüksekdağ, im Vorjahr zu einer jahrzehntelangen Haftstrafe wegen „Untergrabung der Einheit des Staates“ und „Anstiftung zu kriminellen Handlungen“ verurteilt.

Amnesty erwähnt im Jahresbericht auch den Fall des Lehrers Yüksel Yalçınkaya. Er wurde wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ schuldig gesprochen. Gemeint war damit die Gülen-Bewegung, die Gewalt strikt ablehnt und die Terror-Vorwürfe zurückweist. Yalçınkaya war nach dem Putschversuch von 2016 ebenfalls verhaftet worden. Die Verurteilung stützte sich fast ausschließlich auf die Benutzung des Messengerdienstes ByLock.

Amnesty greift Fall von Yalçınkaya erneut auf

Der EGMR machte im Jahr 2023 deutlich, dass das Vorgehen des türkischen Staates den Lehrer in mehreren von der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechten verletzt habe. Darunter seien das Recht auf ein faires Verfahren, keine Strafe ohne Gesetz und Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewesen.

Der Gerichtshof des Europarats, dem die Türkei angehört, trug dem Land auf, Yalçınkayas Verfahren wiederaufzunehmen und ihm eine Entschädigung zu bezahlen. Die Türkei nahm das Verfahren tatsächlich wieder auf. Statt dieses jedoch im Lichte des EGMR-Urteils neu durchzuführen, verurteilte man Yalçınkaya erneut wegen „Terrorismus“ – eine Entschädigung gab es selbstredend auch nicht. Eine Berufung ist noch anhängig.

Der Amnesty-Bericht erwähnt auch willkürliche Entlassungen einer sechsstelligen Anzahl von Beamten wegen angeblicher Gülen-Verbindungen. Dabei stütze die Regierung Erdoğan sich auf Regierungsverordnungen, die keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich seien.

Straflosigkeit für Sicherheitskräfte – Härte gegen Demonstranten

Im Bericht der Organisation ist auch von Fällen der Folter und der Misshandlung von Inhaftierten die Rede. Amnesty beklagt auch eine „Kultur der Straflosigkeit“ im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Polizei oder Armee. Diese sei im Kontext von „Antiterror-Operationen“ besonders ausgeprägt.

Gewalt, Überbelegung, Vernachlässigung – Bericht belegt dramatische Lage in türkischen Gefängnissen

Der Bericht erwähnt unter anderem im Vorjahr gefällte Freisprüche gegen Angehörige der Gendarmerie-Sondereinheit JITEM, die in den Jahren 1993 bis 1996 in mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten gegen die PKK vorging. Dabei soll es jedoch auch zu willkürlichen Tötungen oder dem „Verschwindenlassen“ von Bewohnern gekommen sein – zum Teil sogar von Minderjährigen. Anders als im Fall von Regimegegnern, wo Verurteilungen auf dünnster Beweisbasis erfolgten, würden Staatsbedienstete unter Folter- oder Tötungsverdacht auch bei gewichtiger Beweislage freigesprochen.

Amnesty wirft der Türkei außerdem die Missachtung der Rechte von Migranten vor. Einige von ihnen würden ohne Verfahren abgeschoben. Zudem gehe man immer härter gegen Demonstrationen vor. Dies betreffe unterschiedlichste Gruppen – von Frauen über LGBTQ*-Aktivisten bis hin zu Personen, die sich für ein Gedenken an die Massaker gegen Armenier und Assyrer der Jahre 1915/16 einsetzen. Trotz der aggressiven antiisraelischen Rhetorik der Regierung Erdoğan soll die Polizei sogar gegen Palästinenser-Demonstrationen gewaltsam vorgegangen sein. Generell seien in vielen Fällen Kundgebungen mit fadenscheinigen Begründungen untersagt oder abgebrochen worden.

Bericht bestätigt kritische Einschätzungen über Zustände in der Türkei

Amnesty International ist als Organisation nicht überall unumstritten. Kritiker werfen ihr eine teilweise ideologische Schlagseite bei der Definition von Menschenrechten vor. So akzeptieren nicht alle Staaten und Gesellschaften die Vorstellungen der Organisation über „sexuelle und reproduktive Rechte“. Mit Blick auf mehrere Länder und bewaffnete Konflikte attestieren Kritiker Amnesty auch einseitige Interpretationen, Betrachtungen oder parteiisch geprägte Wertungen – so etwa im Israel/Gaza- oder im Ukraine-Konflikt. In Summe bestätigen die Beobachtungen über die Türkei im Jahresbericht jedoch den Eindruck eines, was die Menschenrechte anbelangt, anhaltend schwer defizitären Staatswesens.

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