Extremismus
Neue Eskalation: Profitiert die Türkei von der Entwicklung in Syrien?
Die Türkei, seit Jahren ein zentraler Akteur im syrischen Bürgerkrieg, hält sich offiziell von den jüngsten Entwicklungen im Nachbarland zurück. Doch hinter den Kulissen scheint Ankara politische Vorteile aus der eskalierenden Situation im Nordwesten Syriens zu ziehen. Militärexperten sehen Chancen für die Umsetzung langfristiger Ziele der türkischen Regierung, obwohl die Lage auch Risiken birgt.
Zwei zentrale Ziele könnte die Türkei in Syrien vorantreiben, analysiert der ehemalige Luftwaffengeneral und Militärexperte Erdoğan Karakuş. Zum einen hoffe Ankara, dass ein Teil der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei in ihre Heimat zurückkehren könne, sollten die Rebellen Aleppo halten können. „Das könnte innenpolitisch für eine Entspannung sorgen“, so Karakuş. Zum anderen verfolge die Türkei das Ziel, die Kurdenmiliz YPG aus den Gebieten westlich des Euphrats zu verdrängen, um die eigene Grenzsicherheit zu erhöhen. Die Türkei stuft die YPG als Ableger der PKK und somit als Terrororganisation ein.
Mitte vergangener Woche begann eine Allianz aus Rebellen unter der Führung der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) eine Offensive im Nordwesten Syriens und konnte schnell die Kontrolle über Aleppo und umliegende Gebiete gewinnen. Parallel dazu rückten protürkische Rebellen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) gegen die YPG im Norden vor und eroberten Teile des von Kurden kontrollierten Territoriums.
Ein Spiel mit kalkuliertem Risiko
Laut Karakuş sei es „naiv zu glauben, Ankara habe nichts von den Vorbereitungen zur Offensive gewusst“. Obwohl die Türkei die HTS offiziell nicht unterstützt, koordiniert sich diese mit den von der Türkei bewaffneten und trainierten SNA-Rebellen. Die militärische Stärke der SNA sei dabei ein zentraler Faktor. „Da die SNA aufgrund der türkischen Militärunterstützung, die sie seit Jahren erhält, stark und organisiert ist, wird die Türkei all diese Erfolge erzielt haben, ohne eine einzige Kugel im Feld abzufeuern“, erklärt Karakuş.
Allerdings ist das Engagement nicht ohne Risiken. Um Russland – Schutzmacht der syrischen Regierung – nicht zu verärgern, wird die Türkei nach Ansicht von Karakuş versuchen, die HTS daran zu hindern, weiter nach Süden vorzudringen. Die zerbrechliche Balance zwischen den Interessen der Türkei und Russlands zeigt sich auch in einem am Dienstag geführten Telefonat zwischen den Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan. Putin forderte Ankara auf, seinen Einfluss zu nutzen, um die verfassungsmäßige Ordnung in Syrien wiederherzustellen. Laut Kreml betonte der russische Präsident, dass „die terroristische Aggression radikaler Gruppen gegen den syrischen Staat schnellstens beendet“ werden müsse.
Eskalation in Syrien: Türkische Angriffe und das Wiedererstarken des IS
Erdoğan wiederum hob hervor, dass die Türkei an einer „gerechten und dauerhaften Lösung“ arbeite und der Diplomatie mehr Raum gegeben werden müsse. Der Astana-Prozess, an dem neben der Türkei und Russland auch der Iran beteiligt ist, könnte zur Normalisierung der Lage beitragen.
Dramatische humanitäre Folgen
Die neue Eskalation in Syrien hat bereits jetzt verheerende Konsequenzen. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden in den kürzlich ausgebrochenen Kämpfen mehr als 500 Menschen getötet, darunter 92 Zivilisten. Aufseiten der Rebellen seien mindestens 217 Kämpfer der HTS sowie 51 SNA-Kämpfer ums Leben gekommen. Bei den syrischen Regierungstruppen habe es 154 Tote gegeben, hieß es in einer Mitteilung am Montag.
Besonders betroffen ist die Region um Idlib, die als Hochburg der Rebellen gilt. Luftangriffe der syrischen Armee auf Wohngebiete haben eine Massenflucht ausgelöst. Anwohner berichten von katastrophalen Bedingungen: Die Wasserversorgung sei zusammengebrochen, zeitweise sei auch der Strom ausgefallen.
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 hat sich das Land in rivalisierende Lager gespalten. Während die Regierung von Baschar al-Assad mit Unterstützung Russlands und des Iran etwa zwei Drittel des Landes kontrolliert, dominieren Oppositionsgruppen Teile des Nordwestens und Nordostens. Trotz immer wieder vereinbarter Waffenstillstände ist eine politische Lösung des Konflikts nicht in Sicht.
dpa/dtj