Film/Kultur/Religion
Serie Doğu: Humor im Umgang mit einem großen Tabuthema
Die Türkei ist in den vergangenen zehn Jahren zu einem der größten Film- und Serien-Produktionsstandorte der Welt aufgestiegen. Wie hat das wirtschaftlich kriselnde Land das geschafft? Insbesondere Love-Storys und Intrigen sowie Produktionen mit historischem Kontext verkaufen sich weit über die Landesgrenzen hinaus wie frischgebackene Simit. Die türkische Regierung hat ein besonderes Gespür dafür entwickelt, diese Branche groß zu machen und für sich zu nutzen.
Der Grund für dieses Bestreben könnte der bloße Wunsch nach Förderung von Kunst und Kultur sein. Doch ein tiefergehender Blick auf die Philosophie hinter diesen Produktionen lohnt sich. Die finanzielle Förderung geschieht auf Basis einer politischen Agenda.
TV-Serien und Spielfilme haben die Fähigkeit, durch die Auswahl bestimmter Handlungsstränge Werte oder Überzeugungen zu vermitteln, um damit die Meinungen der Zuschauer zu beeinflussen. Die neo-osmanische Rhetorik der AKP-Regierung um Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan musste irgendwie an die Bevölkerung herangetragen werden. Das vergessene Erbe des einstigen Weltreichs war in den Köpfen der Bevölkerung nicht mehr präsent.
„Diriliş Ertuğrul“ größter Erfolg
Mit dem Serien-Hit „Diriliş Ertuğrul“ im türkischen Staatsfernsehen TRT löste die türkische Regierung regelrecht „Kopfkino“ in der Bevölkerung aus. Wie weitreichend und effektiv diese Methode ist, verdeutlicht ein lustiges Beispiel. In der besagten Serie verkörperte der Darsteller Engin Altan Düzyatan die historische Figur Ertuğrul Gazi. Also den Vater des Gründers des Osmanischen Reiches.
Nach dem Erfolg der Serie wurde in der Stadt Ordu am Schwarzen Meer eine Ertuğrul-Gazi-Statue errichtet. Blöd nur, dass die Statue exakt wie der Hauptdarsteller aussieht und nichts mit der historischen Figur zu tun hat, wobei es für die in Frage kommenden Zeit (13. Jahrhundert) kaum verlässliche Informationen zum Aussehen von Ertuğrul gibt.
Hypothese: Ein Herantasten an Tabus durch Serien
Wie eingangs dargelegt, können TV-Serien und Spielfilme eine bedeutende Rolle im Social Engineering einer Bevölkerung spielen, indem sie die Meinungsbildung und Einstellungen der Menschen beeinflussen. Durch gezielte Inszenierung, Musik und Dramaturgie können bestimmte emotionale Reaktionen erzeugt werden.
Dies könnte ein Erklärungsansatz dafür sein, warum in den letzten Monaten Inhalte veröffentlicht wurden, die die „Gülen-Bewegung“ thematisieren. Aus einem Tabuthema wird Serien-Content gemacht. Warum aber ist das überhaupt ein Tabuthema?
Werden Gülen und die Gülen-Bewegung enttabuisiert?
Die türkische Regierung macht die Bewegung des islamischen Gelehrten Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Die Bewegung selbst, die in der Türkei schon vor dem Sommer 2016 als umstritten galt, bestreitet das vehement. Bis heute konnte für oder gegen eine Beteiligung kein triftiger Beweis erbracht werden. Eine internationale, unabhängige Kommission sollte die Faktenlage überprüfen, forderte Gülen selbst.
Erdoğan ging nicht darauf ein. Mehr noch, er dämonisierte Gülen, mit dem er einst, zumindest nach außen hin, kooperiert hatte. Seit Jahren geht er mit der geballten Staatsmacht gegen die Strukturen der Gülen-Bewegung vor. Viel ist von ihr nicht mehr übrig geblieben. Nach wie vor stecken zehntausende Gülen-Anhänger oder solche, die es einst mal waren, in den Gefängnissen. Menschen wurden in die Lage gebracht, nicht mehr offen über die Bewegung zu sprechen. So überdimensioniert ist dieses Feindbild inzwischen.
Streaming-Serie „Doğu“ thematisiert offen Gülen-Bewegung
Der Comedian Doğu Demirkol hat eine eigene Serie herausgebracht, die seinen Namen trägt: „Doğu“. Dabei geht es um das Leben eines Tollpatschs, der nichts in den Griff bekommt. Er verpasst die wichtigen Abschlussprüfungen seines Studiums. Ihm fehlt oft die Zielstrebigkeit, Glück in der Liebe sowie eine nötige Selbstdisziplin.
Dennoch wirkt er sympathisch. Und er wird von einer merkwürdigen Person heimgesucht. Quasi wie aus dem Nichts taucht ein „Abi-Prototyp“ auf. Zwar bedeutet abi auf Türkisch großer Bruder. Dennoch wissen Eingeweihte, dass damit männliche Anhänger der Bewegung gemeint sind, die nach dem Vorbild von Fethullah Gülen junge Leute zu „Gesprächszirkeln“ (Sohbets) einladen, um dort religiöse Unterweisungen durchzuführen.
Doğu als typischer Abi: „Warum kommst du nicht zu den Sohbets?“
In seiner klischeebeladenen Rolle als „Abi“ hat Doğu einen Schnurrbart, ein typisches Poloshirt und eine besonders prüde anmutende Frisur. Er redet dem Hauptcharakter ins Gewissen ein, bis dieser schließlich nicht mehr ausweichen kann. In der Szene darauf sitzt Doğu plötzlich in einem typischen Gülen-Haus. Im Zentrum das typische Gericht der Gülenisten: Maklube. Eine große runde Platte mit Reis, Fleisch, Joghurt und Salat.
Danach wird der ewige Pathos religiöser Bewegungen inszeniert und mit dem unvergleichlichen Humor Doğu Demirkols vermengt. Schließlich wird der alberne Doğu aus dem Gesprächszirkel geworfen. Dieser lockere Umgang mit einem solchen Tabuthema könnte dem Comedian zum Verhängnis werden. Oder handelt es sich bei der Serie um eine vorsichtige Annäherung an eine Normalisierung in dieser Frage?