Gesellschaft
Sippenhaft und Hexenjagd: Der Fall Ruşen Çakır
Spätestens seit dem 15. Juli 2016 verfolgt die türkische Regierung Anhänger der Gülen-Bewegung erbarmungslos. Auch Familienmitglieder werden in Sippenhaft genommen und bestraft. Ein neuer Fall zeigt, wie tief gespalten die türkische Gesellschaft aktuell ist.
Der autoritäre Regierungsstil unter der Führung der AKP und MHP erfordert äußerste Vorsicht – eine Lektion, die besonders erfahrene Journalisten gut verstehen dürften. Doch jüngst zeigte der Fall des Gründers des türkischen Onlinemediums Medyascope, Ruşen Çakır, wie leicht selbst prominente Journalisten zu Werkzeugen dieser repressiven Ordnung werden können.
So setzte Çakır kürzlich auf der Plattform X einen Tweet ab, in dem er eine junge YouTuberin in den Fokus rückte, die kürzlich zur Ärztin wurde und als Tochter eines führenden Mitglieds des Gülen-Netzwerks bekannt ist. Seine Absicht sei lediglich ein „Lob“ gewesen, wie der 62-jährige Journalist behauptet, doch die Wirkung war eine andere: Die junge Frau wurde zur Zielscheibe in der polarisierenden türkischen Medienlandschaft.
Ein Tweet und seine Folgen
Wer die türkische Nachrichtenseiten durchstöbert, stößt regelmäßig auf schockierende Meldungen und virale Nachrichten. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat sich die türkische Gesellschaft zunehmend zu einer „Stasi-Gesellschaft“ gewandelt, die geprägt von Überwachung, Denunziation und Misstrauen ist. Viele Menschen verstecken oder verstellen sich und tauschen sogar ihre Identitäten aus, um sich vor Angriffen und Verfolgung zu schützen – eine historische Last, die seit Jahrhunderten ethnische und religiöse Minderheiten in Anatolien prägt.
Diese traurige Geschichte spiegelt sich auch in Filmen wider, wie etwa Das Haus der Lerchen, das die von manchen Ländern als Völkermord eingestuften Massaker an den Armeniern von 1915 beleuchtet, oder The Cut von Fatih Akın, der sich mit der gleichen Thematik beschäftigt. Auch die Dokumentation Dersim Tertelesi von Kazım Gündoğan zeigt das Leid der Aleviten aus Dersim. Heute erleben viele Kurden und Gülenisten in der Türkei ein ähnliches Schicksal.
Mediale Reaktionen und die Polarisierung der türkischen Öffentlichkeit
In diesem politischen Klima agierte Çakır scheinbar naiv, als er die junge Ärztin erwähnte. „Kein Angriff oder Stigmatisierung, nur ein Lob“, kommentierte er unter einem User-Beitrag auf X. Der Tweet löste jedoch eine Welle von Reaktionen aus. Anhänger der Regierung, Nationalisten und Gegner der Gülen-Bewegung griffen den Beitrag auf und deuteten ihn unterschiedlich: Manche warfen der jungen Frau vor, als „U-Boot“ der Gülen-Bewegung zu agieren, andere kritisierten ihren liberalen Lebensstil.
Der Vater der jungen Ärztin meldete sich schließlich zu Wort und rief dazu auf, seine Tochter in Ruhe zu lassen. Er betonte, dass er ihr Freiheit und eine liberale Erziehung gewährt habe und stolz auf ihre Erfolge sei. Ihr YouTube-Kanal dokumentiert ihren Alltag als Studentin, ihre Anpassung an neue Kulturen und ihr Leben im gemischten Studentenwohnheim. Dass sie sich an sozialen Aktivitäten beteiligt, wird von konservativen Beobachtern verurteilt, während Kritiker der Gülen-Bewegung sie aufgrund ihres Vaters verachten.
Eine tief gespaltene Gesellschaft: Vorurteile und Denunziation
Diese Episode verdeutlicht, wie tief die gesellschaftliche Spaltung in der Türkei inzwischen reicht und wie schwer eine Heilung dieser Wunden sein wird. Die türkische Gesellschaft droht, über Generationen hinweg geprägt zu bleiben von Vorurteilen, Denunziation und der Unfähigkeit, über ideologische Grenzen hinauszublicken.
Selbst ein erfahrener Journalist wie Ruşen Çakır muss sich die Frage gefallen lassen, ob seine Worte und Aktionen, mögen sie noch so harmlos gemeint sein, nicht in einem solchen Klima zusätzliche Spannungen erzeugen. Seine Antwort auf die Kritik: „Was ist dabei? Sie ist die Tochter eines respektablen Akademikers“, spricht Bände über seine Haltung und zeigt auf, wie schnell Worte missverstanden und instrumentalisiert werden können.