Solingen: Deutsch-türkische Kandidatin will Oberbürgermeisterin werden

In Solingen sorgt eine besondere Kandidatur für Aufmerksamkeit: Die 24-jährige Büşranur Çetin tritt bei der Kommunalwahl 2025 als Oberbürgermeisterkandidatin für die Alternative Bürgerinitiative Solingen (ABI) an. Sie ist damit erst die zweite Person mit türkischen Wurzeln, die in Solingen für das höchste Stadtamt kandidiert – und die erste Frau im aktuellen Bewerberfeld. Bereits 2015 hatte mit H. C. einmal ein unabhängiger türkischstämmiger Solinger kandidiert, kam damals jedoch nur auf etwa 2,5 % der Stimmen. Auch für Çetin gelten die Wahlchancen als gering, denn sie ist politisch bislang ein No-Name und tritt ohne die Unterstützung einer etablierten Partei an. Wir stellen sie ein wenig vor.
Solingen ist nicht zufällig Bühne solcher Entwicklungen. Die bergische Großstadt erlangte 1993 traurige Berühmtheit, als bei einem rechtsextremen Brandanschlag fünf Mitglieder der türkischstämmigen Familie Genç ums Leben kamen. Dieses Trauma hat die Stadtgemeinschaft geprägt und das Bewusstsein für Rassismus und Integration geschärft. Heute hat rund ein Drittel der etwa 160.000 Solinger Einwohner einen Migrationshintergrund – viele davon türkischer Herkunft. Lange Zeit waren Menschen mit migrantischen Wurzeln in der Lokalpolitik kaum sichtbar. Doch mittlerweile fordern sie zunehmend Teilhabe ein.
„Wir gehören zu dieser Gesellschaft. Wir sind seit 60 Jahren hier… Wir haben Gutes und Schlechtes gemeinsam erlebt“, erklärte Rasim Çetin, Vorsitzender der Alternativen Bürgerinitiative – und Vater der Kandidatin – anlässlich des 30. Jahrestags des Anschlags. An der Stelle des abgebrannten Hauses kämpft er für ein Erinnerungsmuseum.
Die Stadt benannte 2023 einen Platz nach Mevlüde Genç – der Mutter der Opferfamilie, die nach dem Anschlag zur moralischen Stimme der Versöhnung wurde. Genç gilt als eines der größten Opfer rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland – und gleichzeitig als bedeutendste Stimme für Menschlichkeit und Zusammenhalt. Ihr Tod 2022 wurde bundesweit betrauert.
Politische Außenseiter: Warum kandidieren No-Names ohne Chance?
Dass Kandidaten ohne breite Bekanntheit oder Parteiapparat antreten, hat mehrere Gründe. Zum einen stellen die großen Parteien bislang selten Migranten als Spitzenkandidaten in Städten wie Solingen auf – schon gar nicht für das Amt des Oberbürgermeisters. Wer dennoch ambitioniert ist, bleibt oft nur der Weg einer unabhängigen Wählergruppe. H. C.s Antritt 2015 wie auch nun Çetins Kampagne entstehen aus der Community heraus und richten sich primär an diese. Es geht darum, Menschen sichtbar zu machen, ihnen Gehör zu verschaffen und verstanden zu werden – egal welche Herkunft, welches Alter oder Einkommen sie haben. Gerade jüngere deutsch-türkische Bürger fühlen sich von traditionellen Parteien mitunter nicht vertreten und suchen nach alternativen politischen Ausdrucksformen.
Dabei ist den Initiatoren bewusst, dass ein unabhängiger Kandidat ohne etablierte Partei im Rücken kaum gewinnen kann. Çetin selbst betont jedoch andere Ziele: Sie wolle ein Zeichen gegen Diskriminierung setzen. „Rassismus kennt keine Nationalität und keine Religion, aber er hat reale Folgen“, sagt die 24-Jährige und kündigt an, offen, konsequent und entschieden gegen jede Form von Diskriminierung vorzugehen. Solche Kandidaturen sind also weniger von realistischen Machtoptionen getragen, sondern vielmehr von dem Impuls, auf Missstände aufmerksam zu machen und der türkischstämmigen Minderheit politisches Selbstbewusstsein zu geben. Auch mobilisieren solche Kampagnen die Community: Man rückt zusammen, sammelt Unterschriften, diskutiert kommunalpolitische Themen – selbst wenn es am Ende nicht für den Sieg reicht.
Wie stehen die Chancen einer deutsch-türkischen Oberbürgermeisterin?
Trotz aller Symbolik bleiben die Aussichten, dass Solingen ab Herbst von einer Deutsch-Türkin regiert wird, äußerst gering. Die politischen Mehrheiten sprechen eine klare Sprache: Bei der letzten Stadtratswahl 2020 errang die ABI-Liste lediglich einen einzigen Sitz, während SPD, CDU und Grüne dominierten. Zwar kündigte der amtierende OB Tim Kurzbach (SPD) an, nicht erneut zu kandidieren, doch schickt die SPD mit dem Landtagsabgeordneten Josef Neumann einen prominenten Nachfolger ins Rennen. Auch die CDU und die BfS – Bürgergemeinschaft für Solingen treten mit bekannten lokalen Köpfen an. Çetin ist demgegenüber stadtweit kaum bekannt. Ihr Jugendalter – sie wäre mit 24 die jüngste Rathauschefin überhaupt – und ihr Kopftuch machen sie zwar zur medial beachteten Figur, könnten aber zugleich bei konservativen Wählern Vorbehalte wecken.
Ein Blick auf Hannover zeigt, was nötig ist, um als Migrantenkind an die Spitze einer Großstadt zu gelangen: Dort gewann 2019 mit Belit Onay erstmals ein Deutscher türkischer Herkunft das OB-Amt – allerdings als Kandidat der Grünen und gestützt von einem breiten Parteienbündnis. In Solingen hingegen fehlt Çetin eine solche Partei-Infrastruktur. Selbst wenn alle Solinger mit Migrationshintergrund ihr Kreuz bei ihr machten (und das tun erfahrungsgemäß bei weitem nicht alle), würde das für einen Sieg kaum reichen.
Die ABI und ihr Umfeld: Politisches Engagement aus religiösen Milieus?
Wer steckt hinter ihrer Kandidatur? Es ist die Alternative Bürgerinitiative Solingen (ABI), eine unabhängige Wählergemeinschaft aus dem islamischen Spektrum der Stadt. Diese trat erstmals 2020 zur Kommunalwahl an und schaffte auf Anhieb den Einzug in den Stadtrat – damit zog zum ersten Mal überhaupt ein türkischstämmiger Vertreter ins Solinger Stadtparlament ein. Dieses Mandat nimmt Hakan Seçgin wahr, der sich zunächst der Fraktion der BfS anschloss. Die ABI definiert sich als Sprachrohr der Migranten und setzt sich für ihre Anliegen ein, von Bildungsfragen bis zu interkultureller Verständigung.
Gleichzeitig ist die Gruppierung nicht unumstritten. Sie gilt als Zusammenschluss konservativer muslimischer Kreise Solingens. Beobachter verweisen darauf, dass einige ABI-Aktivisten Verbindungen zur Millî-Görüş-Bewegung haben. Andere sollen der Union Internationaler Demokraten (UID) nahe stehen, die laut Bundesregierung als zentrale Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland fungiert. Auch Personen aus dem DITIB-Umfeld (türkisch-islamischer Moscheeverband) sind dabei. Diese Vernetzungen wecken bei manchen Bürgern Misstrauen, ob hier nicht Erdoğan-treue oder islamistische Kräfte Einfluss suchen. Die ABI weist solche Vorwürfe zurück und betont ihre kommunale Ausrichtung. Dennoch führte beispielsweise ein interner Kursstreit Ende 2023 zur Auflösung der Fraktionsgemeinschaft mit der BfS. Offenkundig gab es Differenzen in der politischen Ausrichtung, was zeigt, dass die Gratwanderung zwischen religiöser Verwurzelung und breiter politischer Akzeptanz eine Herausforderung bleibt.
Mehr Vielfalt, noch mehr Hürden
Solingen erlebt mit Büşranur Çetin einen weiteren Versuch, ein Stück Diversität ins Rathaus zu bringen – ungeachtet der geringen Erfolgsaussichten. Am Ende bleibt festzuhalten: Ohne Wertung dieser Entwicklung zeigt sich in Solingen exemplarisch, wie mühsam der Weg zu echter politischer Teilhabe für Migrantinnen und Migranten ist. Doch jede Kandidatur – ob erfolgreich oder nicht – verschiebt die Grenzen des Möglichen ein Stück weiter. Heute mag die Vorstellung, dass eine Deutsch-Türkin Oberbürgermeisterin wird, noch kühn sein. In ein paar Jahren könnte es irgendwo Realität werden. Solingen liefert dafür schon jetzt die Geschichten und Erfahrungen, aus denen künftige Generationen lernen können. Die Botschaft lautet: Mehr Vielfalt in der Politik ist machbar, wenn auch nur Schritt für Schritt.