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Politik

Verfassungskrise in der Türkei verschärft sich

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan besuchte gemeinsam mit anderen Politikern und öffentlichen Persönlichkeiten die Feierlichkeiten zum 60. Gründungstag des Verfassungsgerichts. Foto: TCCB
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Bei den Wahlen im Mai dieses Jahres wurde der Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Can Atalay als Kandidat der Türkischen Arbeiterpartei (TİP) ins Parlament gewählt. Zum Zeitpunkt der Wahl befand er sich, wie kürzlich festgestellt wurde, zu Unrecht im Gefängnis, wurde aber trotz des gewonnenen Mandats nicht entlassen. Die Kontroverse um den Fall hat mittlerweile einen Streit auf höchster Ebene ausgelöst.

Ein Gastbeitrag von Oğuzhan Albayrak*

In der Türkei ist derzeit ein skurriler Justizstreit zugange. Was aber steckt dahinter?

Um das zu verstehen, braucht es einen kleinen Rückblick. Das türkische Verfassungsgericht stellte am 25. Oktober fest, dass die Inhaftierung des Anwalts Can Atalay, der im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten im Jahr 2022 verurteilt worden war, unrechtmäßig sei. Die Verfassungsrichter entschieden, dass sowohl sein Recht, gewählt zu werden und sich politisch zu betätigen, als auch sein Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt wurden.

Die Entscheidung wurde an das zuständige Gericht übermittelt, das den Fall erneut aufnehmen musste. Das 13. Strafgericht in Istanbul leitete die Akte Atalay für die Bewertung der Entscheidung des Verfassungsgerichts an die 3. Strafkammer des Kassationsgerichtes weiter.

Diese entschied am 8. November, dass Atalays Haftstrafe aufrechtzuerhalten sei und sein Parlamentssitz endgültig aberkannt werden müsse. Doch das war nicht alles: Außerdem habe das Verfassungsgericht seine Befugnisse überschritten und somit gegen die Verfassung verstoßen (!), indem es ein endgültiges und rechtskräftiges Urteil überprüft habe. Das von seinem Rang her tiefer angesiedelte Gericht stellte zudem Strafanzeige gegen neun Mitglieder des Verfassungsgerichts, die für die Freilassung Atalays gestimmt hatten.

Erdoğan positioniert sich klar

Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der fast zwei Tage lang nichts zu diesem bisher einmaligen Vorgang in der Geschichte der türkischen Republik sagte, äußerte sich auf der Rückreise von Usbekistan: „Zunächst einmal kann niemand bestreiten, dass das Kassationsgericht eines der höchsten Gerichte der Türkei ist. Nun hat das Verfassungsgericht in letzter Zeit leider begonnen, mehrere Fehler aneinander zu reihen. Das beunruhigt uns sehr. Die Entscheidung des Kassationsgerichts kann niemals verworfen oder unbeachtet bleiben.“ Damit stellte er sich klar auf die Seite des Kassationsgerichts.

Erschaffe ein Problem oder einen Feind, und überzeuge dann alle, dass nur du die Lösung für dieses Problem hast oder du allein diesen Feind besiegen kannst… es ist eine der beliebtesten Strategien Erdoğans. Dass die Richter des Kassationsgerichts seiner Unterstützung sicher sein können, bedeutet in diesem Zusammenhang eine Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.

Erdoğan wird das Problem so weit wie möglich ausreizen und -kosten: Er wird eine kontrollierte gesellschaftliche Diskussion anstoßen und die Gesellschaft zu spalten versuchen. So wird er Can Atalay wahrscheinlich als „Terroristen“ bezeichnen, behaupten, dass das Parlament seinen Aufgaben von Anfang an nicht nachgegangen sei, indem es Atalays Mandat nicht widerrief, und darauf hinweisen, dass das Kassationsgericht das Recht habe, sich der Entscheidung des Verfassungsgerichts zu widersetzen und damit die revoltierende Partei, das Kassationsgericht, stärken.

Verfassungsgericht ist Erdoğan ein Dorn im Auge

Das Verfassungsgericht ist dem Präsidenten schon länger ein Dorn im Auge. Auch wenn die 15 Richter von ihm bestimmt oder mit seinem Einverständnis gewählt wurden, ist es immer noch möglich, dass einer von ihnen aus der Reihe tanzt. Und solche Risiken sehen Autokraten wie Erdoğan nun mal nicht. Man stelle sich nur vor, was es für ihn und seinen Machtapparaten bedeuten würde, wenn das Verfassungsgericht in Zukunft entscheiden sollte, dass Osman Kavala oder Selahattin Demirtaş auch zu entlassen seien. Oder die politische Gefangene, die nach dem vermeintlichen Putschversuch im Jahr 2016 verhaftet wurden …

Erdoğan wird nächstes Jahr 70 Jahre alt. Dass er gesundheitliche Schwierigkeiten hat, ist kein Geheimnis. Aber selbst, wenn es seine Gesundheit erlauben sollte, kann Erdoğan, laut der Verfassung, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2028 nicht mehr antreten.

Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, dass der Präsident in der Lage ist, langfristige Pläne zu schmieden und diese auch Schritt für Schritt umzusetzen. Es wäre somit nicht weit hergeholt zu behaupten, dass Erdoğan daran arbeiten dürfte, die verfassungsrechtliche Begrenzung von zwei Amtszeiten für Präsidenten von jeweils 5 Jahren zu überwinden. Dies wäre mit einer neuen Verfassung möglich.

Bekommt die Türkei eine neue Verfassung?

Seit 2011 bringt er immer wieder seinen Wunsch nach einer neuen Verfassung für die Türkei auf die Agenda. „Ich wünsche mir und mein Traum besteht darin, die Türkei von der Schande der Putschverfassung (1982) zu befreien und eine neue, zivile Verfassung zu schaffen, die in Sprache und Inhalt das Heute und Morgen umfasst und dem türkischen Jahrhundert würdig ist. Wir halten es für eine Schande für unser Land und unsere Demokratie, im Schatten der Putschverfassung über das türkische Jahrhundert zu sprechen“, waren Erdoğans Worte anlässlich der Eröffnungsfeier des Gerichtsjahres am 1. September 2023.

Auch jetzt macht der Autokrat deutlich, dass die Lösung in der gegenwärtigen Verfassungskrise eine neue Verfassung sei. Er richtete auch eine Botschaft an diejenigen aus den eigenen Reihen der AKP, die ihr Unbehagen in dieser Frage zum Ausdruck brachten. „Wenn einige Freunde aus meiner Partei die Entscheidung des Kassationsgerichts kritisieren und das Verfassungsgericht loben, machen sie auch etwas falsch. Die Entscheidungen der Justizbehörden können natürlich diskutiert werden. Diesmal haben wir es mit einem anderen Problem zu tun. Wir sind keine Partei in dieser Debatte, sondern ein Schiedsrichter. Die Lösung für dieses Problem liegt in den Gesetzen. Doch unsere Gesetze sind in dieser Hinsicht unzureichend. Es ist notwendig, unserem Land so schnell wie möglich eine neue Verfassung zu geben. Wir hoffen, dass im Parlament ein gemeinsames Verständnis erreicht wird und die Arbeit an der neuen Verfassung beginnt.“

Die CHP mit dem frisch gewählten Chef Özgür Özel, hat ihre Abgeordneten zu Sitzprotesten im Parlament aufgerufen. Einzelne Abgeordnete der Oppositionsparteien sprechen gar von einem „Putsch“ gegen die Verfassung. Einige Anwaltskammern haben einen Protestmarsch in Ankara organisiert. Ob die Oppositionsparteien gemeinsam gegen Erdoğans Schachzüge eine Antwort haben, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Stand heute: Der Präsident ist seinen planlos wirkenden Gegnern und Widersachern mindestens um eine Nasenlänge voraus.

*Oğuzhan Albayrak ist Direktor beim „Human Rights Defenders“ e. V. (HRD). Er sieht sich als politischer Berater und Menschenrechtsaktivist. Seine Karriere startete er als Diplomat im Auswärtigen Amt der Türkei. Nach Stationen in Kuwait und Aserbaidschan wurde er aufgrund seiner politischen Ansichten aus dem Staatsdienst entlassen. Mittlerweile lebt und arbeitet er im Berliner Exil.

Gastbeiträge sind Beiträge von Personen, die nicht zur DTJ-Redaktion gehören. Manchmal treten wir an Autorinnen und Autoren heran, um sie nach Gastbeiträgen zu fragen, manchmal ist es der umgekehrte Fall. Gastbeiträge geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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