Politik
„Justizputsch“ gegen das türkische Verfassungsgericht?
Angriff auf das Verfassungsgericht: In der Türkei fordert das Oberste Berufungsgericht, gegen die Verfassungshüter zu ermitteln. Entbrannt war der Konflikt um die Inhaftierung des linken Abgeordneten Can Atalay. Steuert Ankara auf eine Verfassunsgskrise zu?
Das Oberste Berufungsgericht für Strafsachen ist eigentlich dem türkischen Verfassungsgericht untergeordnet. Dass es nun Ermittlungen gegen die Verfassungshüter fordert, ist nicht weniger als ein Politikum, das die Türkei in ihren Grundfesten erschüttert. Der neu gewählte CHP-Chef Özgür Özel sprach gar von einem „Justizputsch“.
Wie es soweit kommen konnte, erklärt der Fall von Can Atalay. Der Menschenrechtsanwalt, der im Mai für die Türkische Arbeiterpartei (TİP) in die Nationalversammlung gewählt wurde, sitzt im Gefängnis. Er war bereits 2022 in Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013 zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Am Wahltag war das Urteil aber noch nicht rechtskräftig. Formal durfte sich Atalay also zur Wahl stehen.
Kılıçdaroğlu: „Verhaftung der Wähler“
Der damalige CHP-Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu bezeichnete den Fall empört als „Verhaftung der Wähler“ und forderte Atalays sofortige Freilassung. Und Atalay wehrte sich: Vor dem Verfassungsgericht strengte er eine Individualklage an. Die Richter gaben ihm recht. Am 25. Oktober urteilte das Verfassungsgericht für den Abgeordneten. Seine Rechte seien unrechtmäßig beschnitten worden. Er müsse sofort freigelassen werden.
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Doch Atalay sitzt weiter in Haft. Denn die Strafrichter kamen der Anordnung des Verfassungsgerichts bis dato nicht nach und riefen das Oberste Berufungsgericht für Strafsachen an. Und die dortigen Richter zweifelten prompt die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Gänze an. Der Vorwurf: Die Rechtsexperten dort hätten die Verfassung gebrochen.
Can Atalay weiterhin in Haft
Die Breitseite gegen die Verfassungshüter kommt indes nicht überraschend. In der Türkei werden sie von oberster Stelle angegriffen. So feuerte bereits Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gegen das Verfassungsorgan. Bereits 2016 warf er den Richtern vor, „gegen die Nation“ zu arbeiten. Vor wenigen Tagen sagte er, dass das Verfassungsgericht zuletzt „mehrere Fehler aneinandergereiht“ habe. Dabei brüstet er sich immer wieder damit, dass die türkische Justiz unabhängig sei.
Immer wieder spricht Erdoğan zudem davon, die Verfassung grundlegend ändern zu wollen. Es bleibt nun abzuwarten, ob der türkische Generalstaatsanwalt ihm den Gefallen tun und das Verfassungsgericht demontieren wird. Für die Türkei könnte sich der Streit der Instanzen zu einer echten Verfassungskrise auswachsen. Atalay bleibt indes bis auf Weiteres in Haft.